Bei Beratungen zum Thema „Ahnen-Faktor“ ist mir in den letzten Wochen mehrfach ein ganz bestimmtes Muster begegnet.
Das Spannende dabei ist, dass es sich hinter „lauten“ und die spontane Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Familienkonstellationen versteckt hat. Die Rede ist von Familienmitgliedern, die in der Ahnenreihe scheinbar ein Schattendasein führen, leicht übersehbar, weil unspektakulär, aber in ihrer Bedeutung überaus wichtig.
Nun gibt es ja in allen Generationen die unterschiedlichsten Charaktere, und „bunte Vögel“ lenken durch ihre farbenfrohe Lebensweise unseren Blick auf sich. Der Weltenbummler, die Aussteigerin, der Künstler, die Erfolgreiche. Beim Blick auf den Stammbaum leuchten sie hervor und natürlich lohnt sich die intensive Beschäftigung mit ihnen für alle, die prägenden Faktoren ihrer Vorfahren in sich nachspüren.
Aber hinter einer schillernden familiären Fassade finden sich oft einzelne Frauen und Männer, die etwas ganz anderes repräsentieren: Einen Mangel, einen Verlust, einen Schmerz.
Und in manchen Fällen sitzt hier eine beachtliche Ahnendynamik.
Um diese Vorfahren zu identifizieren, ist es wichtig, den Einfluss des „negativen Faktors“ zu erkennen, den sie auf nachfolgende Generationen haben. Dieser Faktor muss benennbar und beschreibbar sein und oftmals werden wir mit diesen Ahnen Mitgefühl verspüren, vor allem, wenn es sich um nicht selbst Verschuldetes handelt, das durch ihr oder sein Schicksal schwer auf der Ahnenreihe lastet.
Ich werde nicht müde zu betonen, dass eine verantwortungsvolle Interpretation von Ahneneinflüssen ein schwieriges Geschäft ist, weil man sich hüten muss, drauflos zu fabulieren. Gleichzeitig darf und soll man den Mut zur Spekulation aufbringen, weil „Beweisbares“ selten existiert.
In allen Beratungsfällen der letzten Wochen konnten wir potentielle Einflussfaktoren dieser Vorfahren auf das Leben der Fragestellerin oder des Fragestellers benennen. Ob wir dabei auf der richtigen Spur sind, ist eine der wichtigsten Fragen beim Thema Ahnen-Faktor – und eine der am schwierigsten zu beantwortenden.
Die stille Macht des Mangels, des Verlustes und des Schmerzes sollte, falls wir in Frage kommende Personen in der Ahnenreihe aufspüren können, in jedem Fall einer eingehenden Betrachtung wert sein.
In meinem Buch „Der Ahnen-Faktor“ (Affiliate-Link, siehe hier) beschreibe ich die spannende These von Abraham und Török über das „Phantom in der Gruft“, einen Ahnen, der aufgrund von als unerträglich erlebten Taten in ein als „Gruft“ bezeichnetes familiäres „Vergessen“, oder besser Verdrängen, abgeschoben wird. Diese Gruft mit dem darin befindlichen „Phantom“ wird von Generation zu Generation weitergegeben und schlummert im Unbewussten, hat aber durch ihre stark negative Polung oft erhebliche Macht auf einzelne Erben transgenerationaler Einflüsse.
In meinen Augen ist dieses „Phantom“ die Extremform der oben von mir beschriebenen Vorfahren. Gut getarnt, weil kollektiv verdrängt, fällt es in der Ahnenreihe nicht auf. Wir müssten es gezielt suchen, vielleicht weil wir im Leben der oder des Fragenden etwas erkennen, was nicht so recht zu ihr oder zu ihm „passt“, oder weil wir in der herkömmlichen Psychotherapie nicht weiter kommen.
So schwer wie das „Phantom in der Gruft“ machen es uns die Ahnen mit stiller negativer Macht, die ich oben beschrieben habe, glücklicherweise nicht. Wir sehen sie im Stammbaum und müssen „nur noch“ erkennen, welches Potential an Mangel, Verlust oder Schmerz in ihnen steckt und wo wir es möglicherweise in der Ahnenreihe zuordnen können. (Wobei die drei aufgezählten Negativa keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; tatsächlich gibt es dieses Phänomen auch als positiven Einfluss in erheblich belasteten Stammbäumen.)
Der Einfluss verdrängter Konstellationen auf unsere Psyche ist ein wesentlicher Pfeiler in der herkömmlichen Psychotherapie.
Mehr und mehr finde ich Hinweise, dass dieser Faktor auch in Familienstammbäumen eine Rolle spielt. Das, was wir sehen, ist oft nur die Oberfläche, die Fassade, wenn wir es wertend ausdrücken wollen. Der Blick in die dunklen Ecken lohnt sich für alle, die es ernst meinen mit ihrer Suche, nicht nur in der eigenen Psyche, sondern auch in der Ahnenreihe.
Dass mich diese Erkenntnis zu der Frage führt, ob unsere individuenbezogene Psychotherapie nicht eine Vereinfachung und Verblindung gegenüber globalen Einflussfaktoren darstellt, ist ein anderes Thema und führt hier zu weit.
Peter Teuschel
Ich denke, dass die Individuen bezogene Psychotherapie sehr schnell Schuldbewusstsein verstärken kann und genau das ist kontraproduktiv, denn diese leid-und verlustgeplagten Familienmitglieder sind sowieso schon über Gebühr mit Schuld beladen…Man hat ihnen quasi den Rucksack ins Leben nicht mit nahrhaftem Proviant gefüllt, sondern mit Schuldgefühlen aus der Ahnenlinie.
Richtiger ist: Es gibt Menschen in der Ahnenlinie, die über gewisse Ressourcen verfügen (woher auch immer), die es ihnen ermöglichen mit einem „anderen “ Blick (Metaebene) auf die Familie zu schauen und die „Schuld“ zunächst freiwillig übernehmen…sie können sich dadurch aber auch von den Mustern befreien, weil das Schuldeingeständnis eine Voraussetzung ist, während die restliche Sippe in Schuldabwehr verharrt und weiterhin projiziert. Deswegen, denke ich, dass Schuldgefühle ein wichtiger Indikator sind – wenn auch äußerst unangenehm.