Bisher war ich ja immer sehr zurückhaltend damit, Schwurblern und Veschwörungstheoretikern einen manifesten Wahn zu attestieren. Nicht dass ich jetzt davon abweichen möchte, aber nach einigen Gesprächen in den letzten Tagen und wenn ich mir die Aussagen so mancher Zeitgenossen so anschaue, komme ich doch ins Grübeln.
Ich will jetzt niemanden mit Wahnkriterien oder ähnlichem langweilen, man kann ja alles auf Wikipedia und anderen frei zugänglichen Quellen nachlesen.
Um es auf einen Punkt zu bringen: Wenn ich wählen kann, welche „Realität“ ich als die meine ansehe, habe ich keinen Wahn. Bei „subjektiver Gewissheit“ aber neigt sich die Waagschale dann doch bedenklich in Richtung paranoiden Denkens. Um gleich mal die Religionen rauszunehmen: Nicht wahnhaft ist, was die Mehrheit meiner gesellschaftlichen Referenzgruppe für real hält. Und wenn die meisten an einen Gott glauben, dann ist das definitionsgemäß kein Wahn.
Welcher der derzeit viel diskutierten Meinungsmacher wählt seinen Standpunkt zu Corona freiwillig? Welcher ist aufgrund „subjektiver Gewissheit“ wahnhaft davon überzeugt, dass die momentan alles bestimmenden Einschränkungen unseres Lebens nicht auf den Schutz unserer Älteren und Kränkeren abzielen, sondern eine Unterdrückungsmaschinerie „der da oben“ sind mit dem Ziel, unsere Demokratie zu zerstören? Aus der Distanz ist das nicht zu entscheiden und Ferndiagnosen stelle ich ohnehin nicht.
Der Psychiater Klaus Conrad hat 1958 ein Buch geschrieben, das wohl jeden angehenden Facharzt für Psychiatrie begeistert (zumindest mich hat es sehr beeinflusst): „Die beginnende Schizophrenie“. Darin beschreibt er den Beginn einer psychotischen Entwicklung, indem er sich in die Wahrnehmungswelt eines jungen Mannes versetzt, der geradewegs in eine schizophrene Psychose gleitet.
Dabei hat er einen Begriff geprägt, der mir in diesen Tagen oft in den Sinn kommt: Die Apophänie.
Apophäne Zeiten
In der apophänen Phase zu Beginn der Psychose, noch bevor es zu einer gefestigten und inhaltlich definierten Wahnentwicklung kommt, erlebt der Mensch eine Veränderung seiner Umwelt. Es tauchen „Zeichen“ auf, Hinweise, dass Dinge in einem Zusammenhang stehen, den man vorher nicht gesehen hat. Noch kann man nicht genau erkennen, worum es geht, aber es macht sich eine Stimmung breit, dass eben alles mit allem zusammenhängt. Die bisher gültige Realität verliert ihre Funktion und ihre Bedeutung. Es werden neue Verknüpfungen erstellt und sie sind – auch das gehört zur Apophänie – bedrohlich. Irgendetwas „geht vor sich“, auch wenn man es noch nicht so genau greifen kann.
Im nächsten Schritt kommt es dann zu den typischen und konkreten Wahninhalten wie Bedrohung, Beeinträchtigung und Verfolgung, in der das apophäne Erleben, die „Ahnung“, von der Gewissheit abgelöst wird.
Als Psychiater scheint mir vieles, was ich derzeit höre und lese, diesem Stadium der Apophänie nahe zu kommen. All diese Verschwörungstheorien rund um die geplante Irreführung des Volkes durch einen über allem stehenden Plan, uns unserer Grundrechte zu berauben. All dieses Gemunkel, dass die derzeit geltenden Einschränkungen nicht auf oben erwähnten Schutz vor dem Corona-Virus abzielen, sondern anderen, finsteren Plänen dienen, all das ist für mich diesem Stadium der beginnenden Wahnentwicklung ähnlich.
Was begünstigt diesen Zustand?
Natürlich die gegenwärtige Lage einer bisher nie gekannten Situation, die in unser aller Erfahrungsschatz nicht vorkommt. Empfängliche, sensitive Persönlichkeiten geraten da sicherlich leichter in Gefahr, in diese Stimmung etwas hineinzugeheimnissen.
Die Wahnsinnigmacher
Dann gibt es aber noch Menschen, denen ich unterstelle, dass sie gezielt auf der Klaviatur der Verunsicherung spielen. Die selbst nicht in einem apophänen Zustand sind, aber den Bodern bereiten, dass andere in ihn geraten können.
Vielleicht ist auch der eine oder andere dabei, dem ich unrecht tue und der selbst ins Schlingern gerät, was die Interpretation all der ungewöhnlichen Vorgänge um uns herum angeht.
Ganz bewusst sage ich nichts über die „üblichen Verdächtigen“, die ein Video nach dem anderen hochladen, in denen düster orakelt wird. In denen nichts belegt und bewiesen wird. In denen tiefe (oder gespielte) Betroffenheit vorherrscht über die „wahren Hintergünde“, über die „aufgeklärt“ werden soll.
Nein, ich spreche über das Gemunkel an sich klar denkender Zeitgenossen. Zum Beispiel der Politiker , der die Zahlen des RKI als „politisch motiviert“ interpretiert. In meiner Wahrnehmung werden es immer mehr, die sich als „Aufklärer“ gerieren, als „kritische Denker“, „unbequeme Zeitgenossen“, die sich bemüßigt fühlen, alles in Frage zu stellen, was „von oben“ kommt.
In seinem Blog Übermedien.de hat Stefan Niggemeier einen wunderbaren Artikel über Jakob Augstein und Jan Fleischhauer geschrieben, den ich hier gern verlinke. „Ich raune, also bin ich“ umschreibt er treffend diese neue Form der Verführung. Fragen stellen, ohne diese zu beantworten, sich in eine unschuldig aussehende Ecke stellen, all das bereitet den Boden dafür, dass sich die Apophänie als Zeitgeist breit macht. Dass Verunsicherung um sich greift. Dass Menschen das Lager der realen Wahrnehmung verlassen und zu den Verschwörungstheoretikern überlaufen. Nicht weil sie überzeugt sind, sondern weil sie es nicht mehr aushalten, dass wir momentan so wenig wissen. Dass wir der Einschätzung der Wissenschaftler folgen müssen, die „auf Sicht fahren“. Die Menschen, die diesen Rattenfängern folgen, bekommen zwar keine schlüssige Erklärung geliefert (wie auch?), aber zumindest das Gefühl, nicht mehr an der Nase herumgeführt zu werden und „hinter die Kulissen“ zu blicken. Dass sie dabei schnurstracks auf dem Weg sind, die Gefilde der überprüfbaren Wahrnehmung zu verlassen, ist ihnen nicht bewusst.
Was treibt diese „Wahnsinnigmacher“, diese gezielt vorgehenden Verunsicherer, an? Sind es echte Demagogen oder populistische Verführer? Oder handelt es sich um arme Würstchen, die nicht um echte (journalistische oder politische) Aufklärung bemüht sind, sondern nur eins im Sinn haben: Ihre eigene Macht- und Bedeutungslosigkeit durch eine gleichwie geartete Form der Einflussnahme auf andere hinter sich zu lassen? Die aus der immer gleichen Ecke das immer Gleiche tönen, ob es in die neue Situation, in der wir uns befinden, passt oder nicht.
Peter Teuschel
P.S. Um wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen, hier etwas sehr Konkretes (um nicht zu sagen Explizites 😉 ): Samra, der für einen Deutschrapper ein ungewöhnlich lyrisches Piano wagt und die einzig mögliche Variante zeigt, einen Telefonhörer abzunehmen. So dass ich ihm sogar Hinweise auf Gebetshaus und Schahada verzeihe. (Ich stehe sonst nicht so auf Religion in der Musik.)
Bild © Peter Teuschel
Wohltuend. Danke.
Super, danke, das tut gut zu hören! Was ist dann mit denen, die plötzlich in umgekehrter Richtung klar(er) sehen und sich vom Schwurbelkram verabschieden? Die gibt es auch. Corona wirkt auf mich persönlich wie eine kalte Dusche der Realität. Die Lage ist viel zu ernst, um daraus einen Krimi, ein Drama oder ähnliches zu machen. Das ist jetzt kein Spiel mehr. Tut mir leid, aber ich kann diese Menschen nicht ganz ernst nehmen. Wir müssen jetzt bei klarem Verstand bleiben, um all die Folgen des Virus zu meistern v.a. auch in den Entwicklungsländern. Wir brauchen dringend guten Rat von Biologen, Virologen, Physikern, aber auch von Ethikern, Psychologen und Philosophen.
Vielen Dank, auf den Punkt gebracht!
…und auch für die Musik (höre normalerweise keinen Rap, doch das Piano ist einfach wunderbar)
Danke und genau das beschrieben, worüber ich nach dem Artikel über den „veganen Koch“ Attila, der jetzt bewaffnet in den Untergrund geht, weil „die“ ihn ermorden wollen, gestern geredet habe. Einer beginnenden schizophrenen Psychose zuzuschauen bei einem anderen, einem Freund aus meiner Jugend erging es leider so, ich habe ihn wegdrifften gesehen, immer unverständlicher werdend, ist ziemlich unheimlich. Aber was tun? Damals fühlte ich mich machtlos und ratlos. Es passierte und anders als bei einer körperlichen Erkrankung, nichts war greifbar und der Mensch verschwand einfach. Was kann oder sollte man tun bemerkt man diese Veränderungen ?
Die entscheidende Chance in dieser Entwicklung wäre, den Betreffenden in psychiatrische Behandlung zu bringen. Leider ist das erfahrungsgemäß sehr schwer. Da spielen Faktoren rein wie das Wahrheitserleben des potentiellen Patienten in der Psychose („ich bin doch nicht verrückt!“), aber auch weiterhin bestehende Vorurteile gegenüber Psychiatrie, Psychiatern und psychiatrischen Kliniken. Solange nicht akute Selbst- oder Fremdgefahr bestehen, hat man keine Möglichkeiten, den Betreffenden ohne sein Einverständnis zu behandeln. Dann läuft das darauf hinaus, dass alle zuschauen müssen und wertvolle Zeit verstreicht. Eine Patentlösung habe ich nicht. Glücklicherweise gibt es aber viele Patienten, die auch mit einer akuten Psychose bereit sind, sich behandeln zu lassen. Je eher, desto besser ist die Prognose.
Lieber Herr Dr. Teuschel, Ihr Kommentar ist leider zu intelligent für die Mehrzahl unserer derzeitig regierenden Politiker (dies ist ein Kompliment an Sie, um Mißverständnisse von vorneherein auszuschließen) .
Wenn ich schon lese, daß die Agrarministerin, Frau Julia Klöckner mit dem Sternekoch Lafer kocht, platzt mir der Kragen. Kann sie nicht endlich ihren Job verrichten. Kann sie nicht endlich, nur EIN Beispiel, dafür sorgen , daß das unwürdige Kastrationsgesetz von Ferkeln ohne Narkose abgeschafft wird? Ich könnte noch weitere „kritikwürdige“ Aussagen von anderen Politikern anführen. Nur: wie kommen wir weiter? Nicht wählen oder die falsche Partei wählen? Beides dauert viel zu lange. Demonstrieren? Die Politiker lachen sich einen Ast ab. Ich jedenfalls habe keine Entscheidung für mich, bzw. doch eine: Ich gebe bei der nächsten Wahl einen ungültigen Wahlzettel ab. Justina
Das ist ein veritables Dilemma, da gebe ich Ihnen Recht. Aber was für Optionen haben wir? Meinung verbreiten über Facebook und Co. ist wichtig, um selbst Dampf abzulassen. Eine andere Möglichkeit wäre eigenes politisches Engagement. Demos? Warum nicht? Aber natürlich schlägt die Stunde der Wahrheit an der Wahlurne. Ob die Abgabe eines ungültigen Wahlzettels eine gute Lösung ist? Ich selbst habe das trotz großem Frust bisher immer vermeiden können.
Hm, pardon, aber die Apophänie ist doch ein schöne, urmenschliche Fähigkeit, über die jede*r mit einem Funken Phantasie verfügt. Da muss ja nun nicht gleich eine Schizophrenie drauf folgen. Beispiel: das Marsgesicht im Wiki Artikel. Wer etwas Phantasie hat, erkennt ein Gesicht, wer etwas Verstand hat, weiß dass es keines ist.
Der Wikipedia-Artikel ist in meinen Augen nicht sehr glücklich darin, Apophänie und Pareidolie zu vermischen. Was zweitere angeht, bin ich ganz bei Ihnen:
https://schraeglage.blog/small-talk-knaller-fuer-die-silvester-party-glaenzen-mit-der-pareidolie/
Danke. Dann lobe ich ab sofort die Pareidolie. Ich muss aber gestehen, dass ich (nicht vom Fach) den Unterschied nicht ganz verstehe. Woran könnten Sie wenn jemand in ihre Praxis kommt unterscheiden, ob es sich um eine gesunde Pareidolie oder eine Apophänie als Vorbote einer Schizophrenie handelt?
Das erkennt man an der Realitätskontrolle, zu der derjenige mit der „normalpsychologischen“ Pareidolie noch fähig ist. So wie Sie geschrieben haben: Sieht aus wie ein Gesicht auf dem Mars, aber ich weiß ja, dass ich das „hineinsehe“. Derjenige mit der Apophänie sagt: Dieses Gesicht auf dem Mars, es blickt mich direkt an. Ich glaube, das bedeutet, dass ich in Gefahr bin.
Lieber Herr Dr. Teuschel, Trotz allen Frustes und trotz aller negativen Politiker – Aktionen und – Äußerungen, ich kann es einfach nicht lassen, Briefe zu schreiben an die betreffenden Damen und Herren. Mich treibt meine Wut. Vielleicht höhlt der stete Tropfen den Stein.
Zumindest habe ich ja schon einen Mini-Erfolg mit meinem Brief vor ein paar Monaten an Herrn Dr. Schäuble erzielt, als ich ihm schrieb, daß ich solange nicht mehr zur Wahl gehen werde bis die Abschaffung des Kastrationsgesetzes von Ferkeln ohne Betäubung Gültigkeit hat. Er wollte mein Begehren an die betreffende Stelle weiter leiten. Und jetzt, Monate später? Frau Julia Klöckner kocht mit J. Lafer. Dies hätte sie auch mit mir machen können, ich koche auch auf Sterne-Niveau. Ich bin allerdings, lPech für mich, nicht prominent, sondern nur eine unbekannte Arzt-Frau, die ihrem Mann zur Seite steht, obwohl er für seinen Einsatz an vorderster Front in der Corona-Krise mit vielen unbezahlten Einsätzen arbeitet. Justina