Zarte Pflänzchen und Panzer: Ein Dilemma der Individualität

Es ist nicht nur mein Standpunkt in meiner beruflichen Rolle, sondern meine persönliche Überzeugung, dass die Einzigartigkeit jedes Menschen ein fundamentaler Wert im Leben ist. Diese Individualität zu suchen, zu erkennen und wertzuschätzen, ist mir immer schon ein wichtiges Anliegen gewesen. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum mir meine Arbeit in all den Jahren (mittlerweile sind es ja schon Jahrzehnte) noch nie langweilig geworden ist. Hinter jeder Diagnose steht ein unvergleichliches Individuum. In Wirklichkeit steht es natürlich vor der Diagnose, aber unsere medizinische Bürokratie verlangt eine Reduktion des Individuellen auf einen Zahlencode. Damit bin ich prinzipiell durchaus einverstanden, dient dieser Vorgang doch der Kommunikation und der Abbildung von bei allen Individuen vergleichbaren Krankheitssymptomen als Syndrom und schließlich als Diagnose.

Dieser Spagat ist sinnvoll, man darf aber nie aus dem Auge verlieren, dass weder die Vereinheitlichung noch die Individualisierung den „Heilsweg“ darstellen, um es mal etwas pathetisch auszudrücken.

Während es in den zurückliegenden Jahren im Gespräch mit meinen Patienten fast durchgehend erforderlich war, auf das Individuelle, Unvergleichliche der oder des Einzelnen hinzuweisen und hinzuarbeiten, sehe ich aktuell einen anderen Trend.

Mehr und mehr begegne ich Patienten, die mit ihrer Individualität aggressiv umgehen. In der öffentlichen Diskussion spiegelt sich dieses Phänomen vor allem (aber beileibe nicht nur) in der Genderdiskussion wider. Selbstbestimmung der geschlechtlichen Identität und die damit in Zusammenhang stehende Sprachregelung bestimmen gegenwärtig einen großen Teil der sozialen Medien. Ich kann mich an viele Patienten und Patientinnen erinnern, für die ihre Transsexualität ein persönlich überlebenswichtiger Faktor war und bei allen, die mich deswegen konsultiert haben, war ich um eine ernstnehmende Einschätzung bemüht. Sei es, dass eine tatsächliche Identitätsproblematik vorlag, sei es, dass eine psychische Störung diese Wahrnehmung verursacht hat und zunächst eine Behandlung dieser Störung anzuraten war.

Mittlerweile hat sich aber bei einigen eine Haltung etabliert, die jede Einschätzung der Situation von außen als indiskutabel abtut. Allein die Infragestellung einer „selbstbestimmten sexuellen Identität“ wird als repressiv und sexistisch gewertet.

Dabei gibt es heute nicht weniger Frauen und Männer als früher mit einer sexuellen Identitätsproblematik, die einer fachmännischen Beurteilung bedürfen. (Wie aufgehitzt die Diskussion ist, merke ich daran, dass ich kurz überlegt habe, ob „fachmännisch“ nicht noch der Ergänzung um ein weibliches Pendant bedürfe.)

Und an dieser Stelle wird all das sehr problematisch.

Selbstdefinition, die sich aller Diskussion und damit aller Infragestellung entziehen möchte, mag uns unreif, bestenfalls pubertär erscheinen, aber sie schadet letztlich nur dem Individuum, das sich wie in einen Kokon einspinnt und keinerlei Input von außen mehr erlaubt.

Selbstdefinition, die Akzeptanz von außen einfordert und die Verweigerung dieser Akzeptanz als persönlichen oder gesellschaftlichen Affront wertet, ist etwas anderes. Sie erhebt die eigene Selbstwahrnehmung auf eine Stufe mit einer nicht mehr diskutablen Gewissheit, wie sie keiner individuellen Sichtweise gebührt. Es ist die Karikatur der oben erwähnten Individualität, die durch etwas sehr Zartes, Verletzliches und immer Bedrohtes gekennzeichnet ist.
Die Kreuzritter der individuellen Selbstdefinition tragen ihre Sicht der Dinge vor sich her wie eine Monstranz, der jedermann zu huldigen habe. Wer sich weigert, fällt der Inquisition auf Facebook, Twitter oder anderen sozialen Netzwerken anheim.

Ich habe in den zurückliegenden Jahren immer wieder Frauen und Männer in der Sprechstunde erlebt, die mir über „emotionalen Missbrauch“ berichtet haben. Bei genauer Sicht auf die Dinge bestand dieser Missbrauch darin, dass ihre höchst individuellen und oftmals narzisstischen Definitionen von Beziehung von anderen nicht geteilt wurden. Wohlgemerkt: Es gibt natürlich emotionalen Missbrauch und er ist schrecklich. Dieser sollte aber auch der Beurteilung von außen standhalten und sich nicht als Totschlagsargument entpuppen, das gegen alle eingesetzt wird, die sich der eigenen Idee von Grandiosität nicht beugen wollen.

Als Befürworter der ganz zu Anfang propagierten Individualität sehe ich mich auch als Förderer und Bewahrer dieses Prinzips. Deshalb empfinde ich die aggressive Hyperindividualisierung mancher Menschen auch als Bedrohung für die zarten Pflänzchen, die im zweiflerischen Seelenhumus so vieler Frauen und Männer keimen. Erzeugen sie doch zunehmend begründeten Widerstand und Skepsis allem Individuellen gegenüber.

Militante Individualisierung ist wie ein Panzer, der alles platt walzen will.
Echte Individualität dagegen wird immer an sich zweifeln. Das macht sie so wichtig und so menschlich.

Peter Teuschel

3 Responses
  1. sensibel zu sein und nicht zu überhöht von sich zu denken,seine Persönlichkeit
    leben ohne den anderen zu dikriminieren und jeden Tag sich zu erneuern
    und kreativ sein und bleiben.

  2. Lieber Herr Dr. Teuschel,
    Sie haben mir mal wieder so richtig aus der Seele gesprochen, vielen Dank für diesen Beitrag. Bei meinem Wienbesuch führte am letzten Sa eine nicht richtig angemeldete Demo von allen möglichen Spielarten von „Freiheitskämpfern“ gegen so ziemlich alles dazu, dass ich trotz eines unfreiwilligen Stadtmarathons mit Handicap (Riesentüte mit Geschenken) erst mit großer Verspätung in Janaceks „Schlauem Füchslein“ landete…
    Mir geht’s zum Glück vor allem auch durch Ihre Hilfe weiterhin richtig gut! Als pathetisch habe ich Sie übrigens nie empfunden, sondern stets als wertschätzenden Menschenversteher und -unterstützer, als echten Humanisten.
    Auf den nächsten Termin bei Ihnen freut sich
    Inge BT

  3. Lieber Herr Teuschel,
    ich danke Ihnen für diesen Beitrag und den Mut, den es (leider) heutzutage braucht, um so klar Position zu beziehen. Mut, weil der „Shitstorm“ oder zumindest Beleidigungen, Bedrohungen etc. heutzutage immer schon um die Ecke warten, wenn man Befindlichkeiten einzelner oder kleiner Gruppen stört. Ich erlebe das gleiche Phänomen und denke, dass eine ganze Welle (Stichwort sexuelle Identitätsstörungen) auf uns in der Erwachsenen-Psychosomatik zurollt, wenn ich sehe, was in den KJP-Ambulanzen schon los ist…
    Viele Grüße

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