Was meine Patienten über den Shutdown denken

Einige Wochen prägen jetzt schon Ausgangsbeschränkungen unser Leben. Was die Menschen so darüber denken, ist täglich in den Medien zu lesen.

Nach vielen persönlichen Gesprächen, Videosprechstunden und Telefonaten mit meinen Patienten habe ich mittlerweile auch einen ganz guten Überblick, was diese darüber denken.

Ja, natürlich leiden auch sie unter der Situation. Es sind vor allem zwei Aspekte, die Schwierigkeiten machen:

– Die Reduktion sozialer Kontakte ist schmerzhaft. Viele können ihre Kinder respektive Eltern nicht treffen. Besonders schlimm, so wird mir berichtet, ist, dass Großeltern und Enkel nicht zusammenkommen dürfen. Skypen ist ein kleines Trostpflaster, kann aber den echten Kontakt nicht ersetzen.

– Die fehlende Struktur ist der zweite sehr problematische Faktor für sehr viele der Frauen und Männer, mit denen ich über die Situation spreche. Es ist etwas ganz anderes, wenn ich Vorgaben wie Arbeitszeiten oder Stundenpläne „von außen“ bekomme und mich innerhalb dieses Rahmens bewegen kann, als wenn ich mir diese Struktur selbst schaffen muss. Daran scheitern nicht wenige. Das führt zu Frust und Unzufriedenheit. Ich nehme mir vor, am Morgen pünktlich aufzustehen, zum Sport zu gehen und dann „etwas Sinnvolles“ zu tun. Wenn ich dann sehe, dass mir das nicht gelingt, bin ich enttäuscht von mir selbst.
(Sollte ich nicht sein, denn Selbstorganisation gehört mit zum Schwierigsten.)

Neben diesen beiden großen Problemfeldern war ich aber sehr überrascht, von meinen Patienten auch sehr viel Positives über diese Zeit zu hören!

– Rückbesinnung auf die wesentlichen Werte: Darüber habe ich oft diskutiert. Manchmal nimmt dieser Gedanke seinen Ausgang in der Stille, die jetzt in der Stadt herrscht. Wenn ich morgens oder spätabends mit dem Hund rausgehe, ist oft kein Laut zu hören. Die Luft, so sagen mir viele, ist klarer, die Stadt riecht besser. Ich höre mehr in mich hinein und nicht so auf das übliche Getöse um mich her. Was ist wichtig in meinem Leben? Geld? Ruhm? Macht? Viele meiner Patienten haben keins der genannten. Aber sie fühlen sich in dieser Zeit bestätigt darin, dass das nur Phantome sind. Karotten, die wir uns selbst vor die Nase halten, immer nach der Suche nach … ja, nach was eigentlich?

– Kein schlechtes Gewissen mehr: Jetzt geht es allen gleich. Keiner darf mehr raus, keiner darf mehr andere treffen. All das, was viele meiner Patienten ohnehin nicht können oder wollen. Aber jetzt dürfen sie dazu stehen. Keine Lust auf Kontakte? Okay, ist jetzt eh nicht drin. Kein Schwung für Aktivitäten? Viel ist ja auch gar nicht möglich. Ich brauche mich nicht mehr mit all den Erfolgreichen und Aktiven vergleichen, jetzt ist uns allen der Stecker gezogen.

– Krise? Hab ich dauernd! Ein ganz beachtlicher Punkt in den Gesprächen mit meinen Patienten in den letzten Wochen ist die Tatsache, dass viele von ihnen durch die ständige Anspannung, in der sie leben, tatsächlich krisenfester sind als „Gesunde“. Wer sich ständig Sorgen macht, den kann Corona nicht wirklich schocken.

Vielleicht sind ja viele meiner Patientinnen und Patienten immer ein bisschen näher an den wesentlichen Dingen. Vielleicht sind sie weniger abgelenkt vom Lärm, den wir alle ständig produzieren, um uns und anderen vorzugaukeln, dass die Dinge über der Oberfläche bedeutsamer wären als alles, was sich darunter abspielt.

Alle meine Patientinnen und Patienten sind psychisch krank. Keiner von ihnen hat sich das ausgesucht oder ist es gerne. Diese Frauen und Männer sind keine besseren Menschen und mit Sicherheit keine Privilegierten.
Aber in diesen Tagen bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass es stimmt, wovon ich seit Jahren überzeugt bin: Bei mir im Sprechzimmer sitzen nicht die Verbogenen, Gestörten, Unmenschlichen und Fehlgeleiteten, von denen ich täglich hören und lesen muss. Bei mir sitzen Menschen, die durch ihr Leid und ihren ehrlichen Schmerz näher sind an dem, was uns in den stillen, lichtlosen Tiefen in uns selbst begegnet: Unsere Angst, unsere Unsicherheit, unsere Zerbrechlichkeit.
Aber auch eine Ahnung davon, woran wir uns dennoch festhalten können.

Peter Teuschel

Manche Erkenntnisse kommen einem nur abseits der Massen: SOLO

Bild © Peter Teuschel

7 Responses
  1. Lieber Herr Dr. Teuschel,

    1. leider ist nicht in den Medien darüber zu lesen, was DIE Menschen darüber denken, DIE, würden die Würde und Sorgen Ihre Patienten mit einschließen.
    Wer sollte sie befragen wollen oder können, wenn sie keine Schmetterlinge, sondern behäbige Nachtfalter sind.

    2. Anders zu sein, bedeutet nie schlechter oder besser zu sein, kann man sich das aussuchen? Sich dauerhaft so zu fühlen – möglicherweise mit viel außerfamiliärer sozialer Unterstützung? Besser, Schlechter?
    3. „Bei mir sitzen Menschen, die durch ihr Leid und ihren ehrlichen Schmerz näher sind an dem, was uns in den stillen, lichtlosen Tiefen in uns selbst begegnet: Unsere Angst, unsere Unsicherheit, unsere Zerbrechlichkeit.
    Aber auch eine Ahnung davon, woran wir uns dennoch festhalten können.“

    Mögen die kommenden Zeiten still, angstvoll, unsicher, leidvoll ehrlichen Schmerzens und zerbrechlich sein,

    Mögen Ihre Patienten mehr Gehör in den Medien finden.
    Vertrauen Sie darauf, sie wissen, wie das Licht aus der Tiefe empor gehoben werden kann, wenn Zeit, Wissen und Gelassenheit wieder Einklang ins Leben führen darf.

    LG Sophie

  2. Lieber Herr Dr Teuschel,
    Vielen Dank für den Artikel!
    …und da gäbe es vielleicht noch zwei weitere Gruppen von Menschen:
    – Die, die sich nach einer Krise wieder aufgerappelt haben und sich jetzt durch eine Situation, die ja, lockdown bedingt, irgendwie einer Depression entspricht, also ohne Kontakt, wenig Ablenkung, Sport oder Genuss, wieder zunehmend deprimiert fühlen.
    -Oder man hat gerade eine Beziehungskrise hinter sich, hat sich wieder zusammen gerauft, und sitzt jetzt zu eng aufeinander und plötzlich tauchen die alten Alltagsprobleme wieder auf.
    Konnten Sie in Ihrer Arbeit ähnliche Phänomene beobachten?
    Vielleicht haben Menschen mit langjährigen psychischen Problemen da auch wirklich einen Vorsprung, da sie diese kleinen persönlichen oder zwischenmenschlichen Alltagslügen vielleicht schon immer auf die eine oder andere Art und Weise dechiffriert haben.
    Chris

  3. Mein Eindruck ist, daß das Leben mit Corona für Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, die wenig haben und schon gar nicht zu den Priviligierten gehören, gar nicht so weit weg ist von dem, was sie sonst leben.

  4. Der Staat tut alles, um die Bürger vor dem Virus zu beschützen. Das erinnert mich ein wenig an „Dornröschen“, wo der König alle Spindeln im Land verbrennen brennen lässt, aber es hilft nichts. Die böse 13. Fee -die Ausgeschlossene- findet einen Weg ins Schloss.
    Ich denke, wir können dauerhaft nicht alle Risiken des Lebens eliminieren. Dieser unsinnige Versuch stört mich persönlich an der ganzen Sache/Medizin/Staat fast am meisten. Problemverschiebung letztendlich. Wir sollten also noch ein 13. Gedeck auflegen und auch die dunklen Aspekte des Lebens wertschätzen, akzeptieren und integrieren. Vielleicht können wir dann endlich kollektiv aus dem Dornröschenschlaf erwachen.

    • Ein wichtiger Aspekt! Der Vergleich mit Dornröschen gefällt mir. Nur wie würde eine kollektive Integration des „Schattens„, in diesem Fall des Virus, aussehen, ohne dass einzelne Gruppen, zB die der Vorerkrankten, benachteiligt wären? Ich denke, das sind schwierige Entscheidungen, die vielleicht wirklich nur im andauernden Diskurs zu lösen sind. Und vielleicht kann der Diskurs ja auch dazu beitragen „aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen“.

      • Radikale Lösungen oder Änderungen von aussen sind selten gut. Es muss eine Veränderung durch Bewusstseinsarbeit geschehen. Ich habe mal gelesen, dass nur gesunder Narzissmus die Welt retten könne, also die Selbstliebe. Das hat sich bei mir eingeprägt. Die sofortige Bedürfnisbefriedigung in unserer Gesellschaft führt zu Passivität und immer mehr Gier, sie unterdrückt das eigene Engagement. Viele sagen, dass Gesundheit an oberster Stelle steht, wenn sie aber etwas dafür leisten müssen, greifen sie doch lieber zum Medikament oder OP. Es ist die Überfürsorglichkeit einerseits, die Menschen schadet, andererseits wächst die Ohnmacht. Viele Menschen verlassen sich nur noch auf Staat und Medizin. Damit nehmen sie den wirklich Kranken und Armen die Ressourcen weg.

  5. Rudolf Scheutz Antworten

    Sich selbst zu organisieren, ist sehr schwer. Da sind vor allem die Eltern gefragt, dass die Kinder selbstaendig werden: heutzutage leider sehr vernachlaessigt, weil Fernsehen, Internet das passive foerdern. Und der Staat auch lieber den angepassten Menschen will.

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