Wie jeder weiß, ist München die Hauptstadt der Tiere. Nicht nur, dass hier das Zamperl erfunden wurde und für die Olympiade 1972 eine Neuzüchtung desselben zum Maskottchen wurde. Nein, das Ganze geht viel tiefer.
Das Animalische ist für den Münchner sozusagen ein Teil seines Genpools. Hier fließt Tierisches und Menschliches ineinander und führt dazu, dass auch die Stadt als solche immer mehr zum Biotop endemischer Arten wird.
Münchner Spezialviecher sozusagen.
Dieser Teil urbaner Fauna erschließt sich aber natürlich nur dem, der auf Du und Du ist mit München, der im Rhythmus dieser Stadt zu atmen weiß, dem, der quasi eins wird mit den Straßen und Plätzen, den Fassaden und Winkeln. Ihm erscheinen dann die Münchner Tiere in diesen Momenten, in denen die Stadt kurz den Atem anhält und das Animalische aus dem Schatten der Architektur heraustritt wie das viel zitierte Reh auf die Lichtung.
Ein paar Beispiele gefällig?
Um gleich mit dem Brutalsten anzufangen: Dieser Dackel wurde Opfer einer Speerattacke. Der Hintergrund ist unklar, aber offenbar wurde das arme Tier quasi zweigeteilt. Aber halt! Sieht man genau hin, so erkennt man, dass der Hund lebt. Mehr noch, der in ihm steckende Speer, ursprünglich rot, nimmt immer mehr den dackeligen Grünton an. Der Dackel hat den Speer nicht nur überlebt, er hat ihn absorbiert. Der Speer wird Teil des Hundes im Rahmen eines evolutionären Prozesses. Und wenn dieser abgeschlossen ist, werden diese Speerdackel unser Münchner Stadtbild prägen wie kaum ein anderes Tier. Begegnen möchte man einem solchen dann nicht, außer man hat ein gutes Gewissen, dackeltechnisch gesehen.
Oder hier:
Aus der strengen Geometrie von Fassade, Fenster und Pflaster gebiert die Stadt etwas Märchenhaftes, Mystisches: einen Wolf. Sein Jagdrevier sind die staubigen, schmutzigen, siffigen Ecken und Gassen. Wo kein anständiger Hund je hindarf, findet er manch anderen einsamen Wolf und vielleicht sogar Rotkäppchen.
Weniger düster ist diese Ecke:
Nun, das ist jetzt nicht irgend ein Hase. Es ist DER Hase. Natürlich ist es kein Zufall, dass gerade aus München das wohl einzige Beweisfoto für die Existenz des Osterhasen stammt. Dazu muss man wissen, dass genau an diesem Hauseck zwei Religionen aneinander stoßen, nämlich die christliche, repräsentiert durch eine katholische Mädchenschule und die Münchner Synagoge. Obwohl eine harmonische Nachbarschaft besteht, ist offenbar doch an den Nahtstellen, wo beide Einflussbereiche, der christliche und der jüdische, aneinanderstoßen, so eine Art heidnisches Vakuum entstanden, eine zweidimensional flache außerreligiöse Membran. Hier konnte sich dieses eierfixierte sagenumwobene Säugetier festsetzen, das sich zwar hartnäckig der christlichen Feiertage bedient, aber in Wahrheit der personifizierte langlöffelige Heide ist.
Und wo wir schon bei christlichen Feiertagen sind:
Weihnachten. Die staade Zeit. Will man diese scheuen Tiere anlocken, so empfiehlt es sich, einen geschmückten und vor allem lichterloh leuchtenden Tannenbaum aufzustellen. Dann kommen manchmal diese prächtigen … Moment Mal, was sind das eigentlich für Geschöpfe? Was die da auf dem Kopf haben, ist kein Geweih, denn das wäre ja verzweigt. Das sind eindeutig Hörner, und nachdem es keine Kühe sein können, bleiben nur bestimmte Antilopenarten übrig.
Okay, nehmen Sie nächstes Jahr einfach keinen Weihnachtsbaum aus Afrika, dann klappt´s auch mit den Hirschen.
Schnell weiter zum nächsten Beispiel:
Den kennt wohl jeder, der ist schnell abgehandelt. Der Mauerpapagei. Führen Sie Selbstgespräche auf offener Straße? Sind Sie einer von denen, die vor sich hinlächelnd in ein kaum sichtbares Mikro an Ihren in-ear-Kopfhörern sprechen? Dann kennen Sie das vielleicht, diesen Widerhall ihrer eigenen Worte, wenn Sie an der Ampel warten oder das Auto aufsperren. Nein, das ist kein Echo, es ist der Münchner Mauerpapagei. Plappert alles nach, was Sie so sagen. Laut, so dass es alle hören. Immer wieder, so dass es keiner vergisst. Also Vorsicht.
An manchen Stellen in München fühlen sich die Stadttiere besonders wohl. Dort kommt es dann mitunter zu Szenen, die sich jeder Interpretation entziehen.
Obwohl auch hier wieder der heidnische Hase auftaucht, so ist er diesmal doch begleitet von psychedelischen Bikinihäschen, die wohl in den wilden 1970er Jahren als bildgewordener LSD-Trip irgend eines hormongesättigten Kommunarden so heftig nach außen projiziert wurden, dass sie sich in die Mauer eingebrannt haben und uns auch heute noch als Argument gegen allzu laxen Umgang mit synthetischen Drogen dienen können. [Was passiert, wenn der Streifenkater oben die braune Stute einholt, will ich hier gar nicht diskutieren.]
Aber nicht in allen Stadtteilen fühlen sich die Münchner Stadtviecher wohl. Es gibt auch Bezirke, die sind so öde, da willst du auch als Tier nicht tot über dem Zaun hängen. Geschweige denn über dem Balkon.
Peter Teuschel
Wundervoller Text: wortgewaltig, zart, ironisch, liebevoll, treffsicher! Geschieht dem Speer recht, dass er vom Dackel inkorporiert wird. Wann erscheint das nächste Teuschel-Buch? Muss ja nicht bei Schattauer sein, bei so viel Lyrik!
Lieber Wulf, herzlichen Dank! Aus Deinem berufenen Munde freut mich so ein Lob natürlich besonders.
Wer weiß: Vielleicht wäre ja „Lyrische Medizin“ noch eine nicht so abgegraste Wiese.
🙂
Da kann ich meinen Vorredner nur recht geben. Ich habe es mit Genuss gelesen. 🙂
Gerade noch Mal auf Ihrer Seite entdeckt und gelesen:
Einsame Klasse!
Bewundernswerte Fantasie und der Realität näher als man denkt!