Die aktuelle Ausgabe der von mir geschätzten Zeitschrift „Nervenheilkunde“ beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema: Dem Komplex Mobbing, Bullying, Stigma und Ausgrenzung.
In der letzten Woche machten Pressemeldungen zum Suizid einer 11jährigen Berliner Schülerin die Runde. Mobbing soll dabei eine Rolle gespielt haben. Anklagen und Dementi, Interviews mit Experten werden veröffentlicht. Alles wichtig, nur stellt sich mir die Frage, ob sich denn auch an den Schulen (um die es letztlich geht) etwas ändert, wenn der Presse-Rauch sich verzogen hat.
Aber ich möchte jetzt nicht auf diese aktuelle Tragödie eingehen, sondern in eine etwas andere Richtung blicken. Die Artikel aus der genannten Zeitschrift sind insgesamt gut und beschäftigen sich sehr konkret mit den jeweiligen Themen.
Was mir gefehlt hat? Jetzt wird es schwierig, denn ich betrete den schmalen Grat zwischen persönlicher Betroffenheit und distanziertem Blick auf die Wissenschaftslandschaft.
Um es ohne Umschweife zu sagen, habe ich mich gewundert, dass meine Bücher zu den Themen Mobbing, Bullying und Ausgrenzung in der Familie keine Erwähnung gefunden haben. So ganz abwegig wäre es nicht, auf sie einzugehen, sind sie doch bei den jeweiligen Themen die einzige Darstellung der Thematik in Form von Fach- und Sachbüchern aus fachärztlicher Sicht.
Um nicht in den Verdacht narzisstischer Gekränktheit zu gelangen, bin ich im Geiste drei Schritte zurückgegangen und habe mich bei einigen vertrauten und lieben Menschen erkundigt, wie sie das sehen. Das hat mir geholfen, doch darüber einen Beitrag zu schreiben, der weniger mit Kränkung zu tun hat, durchaus aber mit Selbsterfahrung.
Ich darf etwas ausholen:
Meine Assistentenzeit in der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie habe ich an der Uni-Klinik der LMU München begonnen. Es war eine tolle und intensive Erfahrung, an die ich auch heute noch sehr gerne zurückdenke. Aber aus heutiger Sicht gab es einen Haken: Wir saßen, wie es sich für eine Uni-Klinik gehört, in jeder Menge Fortbildungen. Zum Thema Rezeptoren hörten wir live die besten Leute und die aktuellste Forschung. Wir lauschten Vertretern der Leonhard-Richtung und versuchten uns in Kernbergs Gedankenwelt zurecht zu finden. Wir dachten, wir seien die Spitze der Psychiatrie. Vielleicht waren wir das auch in gewisser Hinsicht, mit unserem Chef Prof. Hanns Hippius hatten wir einen der profiliertesten Psychiater Deutschlands als Chef. Es gab nur ein Problem: Wir sahen nur einen Bruchteil der Patienten, die in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden. Notaufnahmen im Nachtdienst waren selten, denn wenn die Klinik voll belegt war, wurde sie vom Dienstarzt beim Rettungsdienst „abgemeldet“ und so verliefen die Nächte ruhig und die Tage waren spannend, aber gut planbar.
Nach meinem Wechsel in das Bezirkskrankenhaus Augsburg änderte sich das schlagartig. Plötzlich waren wir diejenigen, die nachts aufnehmen mussten. Ich kann wirklich sagen, dass ich erst da die praktische Psychiatrie richtig erfahren und gelernt habe. Als Stationsarzt der geschlossenen Männer-Station standen für mich auf einmal nicht hehre Fortbildungen auf dem Programm, sondern die Frage, wie ich gleichzeitig vier akute Maniker, zwei massiv suizidgefährdete Depressive und drei tobende Psychotiker behandeln sollte. Und wenn ich morgens auf die Station kam und unsere 20 Betten mit 26 Patienten überbelegt waren, musste auch dafür eine Lösung gefunden werden.
Wenn ich im Bezirkskrankenhaus an die Uni zurückdachte, fiel mir auf, wie wenig wir dort von der Akutpsychiatrie wussten und wie überheblich wir waren in der Einschätzung, wir wären die Creme de la Creme.
Als Facharzt in eigener Praxis lernte ich dann wieder ein völlig neues Feld kennen. Die Versorgung einer großen und manchmal sehr großen Zahl ambulanter Patienten ist nicht zu vergleichen mit der stationären Behandlung. Mir wurde klar, wie wenig wir in der Klinik über die Herausforderung der ambulanten Medizin wussten.
Und darauf will ich letztlich mit meinem weiten Bogen quer durch meine Weiterbildung hinaus:
Wir arbeiteten in den jeweiligen Stationen der Weiterbildung einigermaßen autistisch vor uns hin, sahen nur den (aus heutiger Sicht beschränkten) Bereich unseres aktuellen Wirkens und hielten ihn für den Nabel der Psychiatrie.
Aus diesem Blickwinkel erlebe ich auch die aktuelle Ausgabe der „Nervenheilkunde“ und das Fehlen meine Bücher: Es läuft ein tiefer Graben zwischen Uni-Klinik, Bezirkskrankenhaus und Praxis, zwischen universitärer Forschung und empirischer Erfahrung des Niedergelassenen, zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Und wie die beiden viel besungenen Königskinder können die einzelnen Versorgungseinheiten der Psychiatrie nicht zueinander kommen: „Das Wasser ist viel zu tief“.
Manchmal habe ich auch fast den Eindruck, dass wir keinen Graben, sondern einen Ozean vor uns haben. Mit verschiedenen Inseln, deren Bewohner zwar von der Existenz der anderen Inseln wissen, die es aber nicht schaffen, ein bemanntes Boot loszuschicken.
Für den medizinischen Fortschritt kann das kein guter Zustand sein. Um wieder zu meinem Beispiel zurückzukehren, stellt sich die Frage, ob allein Studien zum Thema Mobbing, Bullying und Ausgrenzung ausreichen, um die gesamte Spannbreite der Problematik abzubilden oder ob es sinnvoll sein könnte, empirisch gewonnene Erfahrungen (wie aus Sachbüchern für ein breites Publikum) damit abzugleichen und einzubinden. Letztlich wäre ja schon viel gewonnen, wenn man sich gegenseitig wahrnehmen würde.
Natürlich, und das möchte ich zum Schluss nicht unerwähnt lassen, gibt es auch positive Beispiele gegenseitiger Wertschätzung und gelungener Kommunikation. Interessanterweise haben es in meiner Erfahrung mindestens zwei Kliniken geschafft, über den eigenen Tellerrand hinaus mit Kollegen auf anderen „Inseln“ zusammenzuarbeiten. Die eine kenne ich als verantwortlicher Arzt dieser Klinik, die andere als Niedergelassener. Beide werden von einem privaten Träger betrieben. Mir scheint, dass mit der Notwendigkeit zur wirtschaftlichen Arbeitsweise auch Belange von Kollegen aus anderen Bereichen besser verstanden werden. Darüber hinaus gelingt eine berufliche Zusammenarbeit offensichtlich besser, wenn man sich auch persönlich gut kennt. Nur darf dann auf den „Inseln“ kein Thron stehen, der eine Kommunikation auf Augenhöhe erschwert. Aber das ist wieder ein anderes Thema …
Möglicherweise klingt das für den einen oder anderen zu negativ oder jemand hat andere Erfahrungen gemacht. Die Kommentarspalten würden sich darauf freuen.
Peter Teuschel
Bild © Peter Teuschel
Wie so oft haben sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Tellerraender soweit das Auge schaut und keine Fernglaeser, die andere Inseln erkunden. Koennte es sein, dass es uns Menschen generell schwer faellt, uns aus unseren kleinen Minikosmen herauszubewegen? Ich denke, das ist nicht nur ein Problem der Psychiatrie. Diese Erfahrung durfte ich auf mehreren Gebieten machen und schliesse mich selbst auch durchaus nicht davon aus, nicht ueber meine eigenen Tellerraender blicken zu koennen. Ich hoffe aber, dass diese Erkenntnis selbst dazu fuehren kann, dass der Teller etwas grossflaechiger angelegt wird, mit sofortiger Wirking und fortschreitend in die Zukunft. Danke fuer Ihre exquiste Schilderung Ihrer eigenen Entwicklung und den Einsichten, die sich fuer Sie (und durch Ihre Aufmerksamkeit) dadurch ergeben haben. Es ist immer gut, mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurueckgeholt zu werden, damit man es sich nicht zu gemuetlich auf seiner Insel einrichtet.
Da konnte ich doch glatt einen Roman zu diesem Thema schreiben, sehr verehrter Herr Dr. Teuschel, wenn ich diese Sache nicht schon längst aufgegeben hätte und nicht mal mehr sarkastisch auf die Doktoren im Elfenbeinturm reagieren mag. Ich habe jeden Widerstand aufgegeben. Sollen die doch machen. Nur ganz für mich frage ich oft: „Was ist eigentlich Psychologie? Was fehlt den Menschen denn?“ Waren die großen Dichter wie Goethe, Dostojevski…nicht die Menschenversteher und wahren Psychologen? Was sind die großen Stolpersteine und wie können sie bewältigt werden (Ödipus-Konflikt ect.)? Psychiater und Psychologen/-therapeuten scheint das alles nicht im mindesten zu kratzen (Naja is halt Hobby, ganz nett schon und interessant, ja ja). Da wird das Offensichtlich und Nächstliegende geleugnet, was das Zeug hält. Sowas kommt in der Medizin nicht vor. Wer würde je die Kompetenz der Ärzte bezweifeln? Ich schon – nicht, dass sie dumm wären oder so…. Der Graben ist wahrlich so tief, dass es sich nicht einmal lohnt, die Reise überhaupt anzutreten. Sollen sie „ihre“ Krankheiten doch behandeln, ganz wie sie wollen, auf „ihre“ Art und Weise – ohne irgendein Verständnis. Mir ist das mittlerweile schnurz-piep-egal. Ohne Wagnis geht´s halt nicht. Wie viele psychische Krankheiten könnten alleine durch persönliche Entscheidungen (z.B. Trennung aus dem Elternhaus beizeiten, entweder-oder…) geheilt bzw. verhindert werden? Aber nein – ist ja unzumutbar- wie böse. Was tun wir mit den offenen und unterschwelligen Aggressionen? Leugnen. Die gibts gar nicht (alles Einbildung), weil es uns doch (endlich- nach all den Entbehrungen der Nachkriegszeit) so gut geht. Mich wundert nichts mehr.
Hermeneutik – nur ungenaues Schwafel! Nichts gewisses weiß man nicht. Wer lässt sich schon auf sowas ein? Viel Spass sag ich da und weiter so, liebe Medizin! (dass es euch fei nicht derrennt- irgendwann)
*Ohne Umschweife verwundert dies mich das seit Langem und kann Ihre Gekränkheit durchaus nachvollziehen. Viel schlimmer, dass durch das Ignorieren noch mehr Menschen gekränkt werden können.*
„Um es ohne Umschweife zu sagen, habe ich mich gewundert, dass meine Bücher zu den Themen Mobbing, Bullying und Ausgrenzung in der Familie keine Erwähnung gefunden haben. So ganz abwegig wäre es nicht, auf sie einzugehen, sind sie doch bei den jeweiligen Themen die einzige Darstellung der Thematik in Form von Fach- und Sachbüchern aus fachärztlicher Sicht.“
Nach Ihrer Reflexion, und meiner ersten Reaktion der Ihren beizupflichten, denke ich jedoch das Problem wurzelt noch umfassender. Wir leben nicht in Inseln – die könnte man ja noch mit etwas Anstrengung erreichen, um andere mit neuen Gedanken und Ideen zu infizieren.
Wir leben in (wissenschaftlichen) Blasen, nicht nur in der Psychiatrie. Obwohl, die ja immer sehr stolz darauf ist, den Patienten klar zumachen, dass Akut-Psychiatrie genau das sei. Das ist sie eben nicht.
Akut-Psychiatrie ist m. E. keine Blase, in der man lebt. Es ist das Leben, in dem alle Seitenwände der Blasen platzen und man auf die richtige Realität knallt. Erst durch das Erkennen der Probleme anderer Patienten, kommt man aus seiner eigenen Blase heraus und gewinnt eine neue Sicht auf die Blasen-Problematik anderer und lernt sich und seine Befürfnisse besser wahrzunehmen.
Es ist uns irgendwie gelungen, aus dem Produkt von hochwirksamen Gedankenblasen, Kaugummiblasen zu kreieren, die es verhindern, wissenschaftliche Erkenntnisse in Alltagssituationen zu übertragen, die dem Menschen das Leben und Zusammenleben erleichtern. Das verpufft immer wieder wie Seifenblasen, weil die Erkenntnisse nicht schnell genug umsetzen lassen und enttäuscht die Menschen. Das liegt daran, dass wir so einen hohen Bildungsgrad und Zugang zur Bildung haben.
Meiner Meinung resultiert dies daraus, dass wir andere Menschen und ihre Erfahrungen immer wieder unterschätzen und unbewusst abwerten und zu einer Zusammenarbeit nicht wirklich bereit sind. Die Frage ist warum?
Stellen Sie sich eine Frage – wenn es morgen keine Strom mehr gibt – worin bestehen Ihre eigentlichen Probleme und sind sie dann bereit Ihre Blase zu verlassen und anderen zu helfen?
Und wenn ja, warum nicht heute?
Beim ersten Ausrutscher hab ich noch nichts dazu geschrieben. Aber jetzt passiert es zum zweiten Mal – und das als Facharzt.
Dass die Betroffenen es gar nicht mögen und schon genug mit Vorurteilen zu kämpfen haben, sollten Sie wissen.
Worum geht es: Um den Missbrauch des Wortes „autistisch“.
Die Begriffe „Autismus“ und „autistisch“ sind in der Geschichte der Psychiatrie fest verankert und wurden lange vor dem Autismus-Konzept z.B. von Kanner von Eugen Bleuler eingeführt. „Autismus“ ist nach Bleuler neben Ambivalenz, Assoziationsstörungen und Affektivitätsstörungen eines der Grundsymptome der Schizophrenie („Die 4 A“) und meint den Verlust der Beziehung zur Realität. Meiner Verwendung des Begriffes „autistisch“ im vorliegenden Beitrag entspricht am ehesten das auch aus heutiger Sicht unvorstellbar moderne Buch „Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung“ von Eugen Bleuler aus dem Jahre 1919. Dass manche Menschen mit Autismus-Störung heute diese Verwendung des Begriffes „autistisch“ „gar nicht mögen“, kann sein, bedeutet aber nur, dass diesen die Herkunft und Geschichte des Begriffes womöglich nicht bekannt ist. (In meinem beruflichen Umfeld kenne ich übrigens keinen einzigen Autisten, der sich daran stören würde. Da gibt es durchaus wichtigere Themen.) Einen Alleinanspruch auf die Verwendung des Wortes „autistisch“ für den heute im Vordergrund stehenden Störungsbegriff sehe ich von daher nicht, wenn auch eine klare sprachliche Regelung natürlich wünschenswert wäre. Von „Missbrauch“ des Begriffes zu sprechen halte ich allerdings für völlig verfehlt.
Die Sprache ist einem dynamischen Prozess unterworfen, auch vor einem gesellschaftlichen Hintergrund. Bestes Beispiel ist die Verwendung des Begriffes „schizophren“, der neben „an Schizophrenie leidend“ in unserem Sprachgebrauch als Synonym für widersprüchlich oder absurd verwendet wird. Bemerkenswerter Weise fühle sich Schizophrene dadurch in der Regel auch nicht stigmatisiert, weil sie sich schon durch die Verwendung des Begriffes „Schizophrenie“ negativ etikettiert fühlen.
Ein weites Feld insofern …