Norbert Nedopil und Henning Saß: Forensische Begegnungen

Ist es eine Folge des zunehmenden Lebensalters, dass ich immer häufiger zurückblicke auf manche Stationen meines beruflichen Lebens? Schon in der Zebrafrau hatte ich ja einiger für mich eindrücklicher Begebenheiten gedacht. Vielleicht trägt ja auch die Fülle an Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen dazu bei, dass ich vergleiche: Wie war es früher, wie ist es heute?

Manchmal aber werden Erinnerungen angestoßen von aktuellen Ereignissen.

Der bekannte Forensiker Prof. Norbert Nedopil hat ein neues Buch geschrieben: „Jeder Mensch hat seinen Abgrund„. Zeitgleich ist sein Kollege Prof. Henning Saß in den Medien wegens seines Gutachtens über Beate Zschäpe.

Ich hatte das große Vergnügen, bei und von beiden zu lernen. Wenn ich daran denke, fühle ich mich wieder in die Tage meiner Assistenzarztzeit zurückversetzt. (Noch ein Effekt: Gleich fühle ich mich dreißig Jahre jünger :))

An meiner ersten Stelle in der Nervenklinik der Universität Nußbaumstraße konnte man den Kurs „Forensische Psychiatrie“ belegen. Im Rahmen dieser Ausbildung musste man ein Gutachten über einen Probanden anfertigen, das dann vom Leiter der forensischen Abteilung, Prof. Nedopil, beurteilt wurde. Natürlich hatte der damals schon sehr renommierte Nedopil den Probanden selbst untersucht. Die Besprechung des Gutachtens war nichts für Assistenten mit schwachen Nerven. Nedopil sparte nicht mit Kritik und äußerte diese auch so, dass wir uns alle Fehler, die wir gemacht hatten, bis in alle Ewigkeit merkten. Ein strenger Lehrmeister! Bei weiteren Gutachten, die ich im Laufe meiner Zeit in der Uniklinik anfertigte, war er nicht mehr so streng, legte allerdings größten Wert auf formale und inhaltliche Qualität des Gutachtens. Es war die beste Schule, die man haben konnte.

Henning Saß war mein Oberarzt während meiner Zeit auf der Suchtstation. Damals hatte er sich bereits einen Namen gemacht als Spezialist für Persönlichkeitstörungen. Als Koryphäe der forensischen Forschung musste er sich auf der Station mit Berichten über Trinkmengen, Führerscheinverluste und Delire unserer Patienten befassen. Vor seiner ersten Visite war ich sehr gespannt, wie das wohl zusammenpassen würde. Aber Prof. Saß hörte sich das alles so aufmerksam an, als würde ihn nichts mehr interessieren als erhöhte Leberwerte und die verschiedenen Formen der Bagatellisierung eigenen Trinkverhaltens.
Das habe ich damals von ihm gelernt: Lasse ich mich ernsthaft auf eine Sache ein, ist nichts banal und alles bedeutsam.

Beeindruckt hat mich auch sein Umgang mit meinem damaligen Konzept einer „depressiven Persönlichkeit“ (eine Jugendtorheit meinerseits). Nachdem ich ihm diese meine damalige Spezialdiagnose bei einer Patientin genannt hatte, stutzte er natürlich , denn eine „depressive Persönlichkeit“ ist im ICD nicht vorgesehen. Er ließ sich ganz genau erklären, wie ich das meine. Dann nickte er, lächelte mich an und meinte: „Interessant“. Ich durfte die Diagnose behalten und sie sogar verwenden.
Für die Vorstellung in der Morgenkonferenz mussten wir jedes Krankheitsbild auf der Syndromebene vorstellen, also ein depressives Syndrom, ein paranoides Syndrom, ein „Syndrom der gestörten körperlichen Bewusstheit“ und so weiter. Bei einer Patientin, die als einziges Symptom das Gefühl hatte, als stünde jemand direkt hinter ihr, passte keines der üblichen Syndrome. Prof. Saß meinte, da müssten wir wohl ein neues kreieren, schnappte sich die „Psychopathologie“ von Karl Jaspers und suchte nach der Textstelle, in der etwas Vergleichbares beschrieben wurde. Jaspers bezeichnete dieses Phänomen als „leibhaftige Bewusstheit“. Am nächsten Tag stellte ich die Patientin als eine Frau mit dem „Syndrom der leibhaftigen Bewusstheit“ vor. Dazu muss man wissen, dass die allmorgendlichen Patientenvorstellungen in etwa den Stellenwert einer heiligen Messe hatten und es dieses Syndrom nun mal nicht gibt. Entsprechend großes Aufsehen erregte die Vorstellung und obwohl keiner der Anwesenden etwas dazu sagte, so blickten mich doch alle fragend an. Prof. Saß saß mit sphinxhaft unergründlichem Blick in seinem Stuhl. An diesem Tag habe ich begriffen, wie unendlich cool Henning Saß sein kann. Als typisches „Nordlicht“ stach der gebürtige Kieler in der Münchner Klinik durch seine überaus trockene Art heraus und bestimmt stießen sich manche Kollegen an seiner scheinbar unterkühlten Attitüde.
Als wir zu einem Probanden fuhren, den ich in der forensischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses Haar begutachtet hatte, versäumte er es, auf der Autobahn die richtige Ausfahrt zu nehmen. „Ich denke, da hätten wir jetzt rausfahren müssen“, sagte Prof. Saß so, als würde er sich gerade über das Wetter äußern. Diese Art, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen, bewunderte ich besonders an ihm.

Beiden, Norbert Nedopil und Henning Saß, begegnete ich viele Jahre später wieder, als ich schon längst fertiger Facharzt und niedergelassen war.

Einer meiner Patienten machte mir große Sorgen, weil er fremdaggressive Ideen hatte, die ich zunehmend bedrohlich fand. Gleichzeitig hatte ich eine gute therapeutische Beziehung zu ihm, die ich nicht durch eine vielleicht vorschnelle Zwangseinweisung aufs Spiel setzen wollte. Eine knifflige Situation und das einzige Mal, dass ich mich forensisch beraten ließ. Mit Prof. Nedopil (nunmehr schon ergraut an den Schläfen) vereinbarte ich einen Beratungstermin, die Kosten, die mir genannt wurden, schienen mir überschaubar. Dieses Gespräch löste mich aus meiner ambivalenten Hemmung und ich wusste, was ich zu tun hatte. Die Klarheit, mit der Norbert Nedopil die Situation analysierte, fand ich höchst beeindruckend. Und so brummelig wie zu meiner Assistentenzeit war er auch nicht. Ich konnte die Situation mit dem Patienten klären. Eine Rechnung für die Beratung habe ich übrigens nie erhalten.

Henning Saß traf ich vor einigen Jahren vor Gericht wieder. Einer meiner Patienten hatte eine Straftat begangen und Saß war der Gutachter. Ich sollte dem Richter meinen Eindruck von dem Patienten schildern, was ich (mit Prof. Saß im Rücken) auch tat. In der Verhandlungspause kam ich ins Gespräch mit dem Gutachter. Wir erinnerten uns an gemeinsame Zeiten in der Münchner Uniklinik und er sagte mir, meine Beschreibung der Persönlichkeit des Patienten sei ausgezeichnet gewesen und decke sich mit seiner Einschätzung. Obwohl ich selbst schon seit Jahren Facharzt war, hat mich dieses Lob so sehr gefreut, dass mir schlagartig bewusst wurde, wie groß meine Achtung vor Henning Saß ist.

Getroffen habe ich beide Forensiker seither nicht mehr, aber aktuell lese ich über sie. Über Norbert Nedopil, der seine Genialität gerne hinter einer rauen Schale verbirgt und über Henning Saß, der offensichtlich noch cooler geworden ist, als er es immer schon war.

An einige Kollegen, denen ich im Laufe meines beruflichen Weges begegnet bin, denke ich voller Respekt und Dankbarkeit zurück. Bei Norbert Nedopil und Henning Saß ist auch ein Stück Bewunderung dabei. Und immer, wenn ich mich ein wenig gräme, dass ich nicht Forensiker geworden bin, tröste ich mich mit dem Gedanken, dass ich an diese beiden nie herangereicht hätte.

Lang ist´s her (Gutachten von 1988)

Peter Teuschel

 

5 Responses
  1. osterhasebiene langnase Antworten

    Lieber Herr Dr. Teuschel, ich könnte vor Neid erblassen! Sie wollten Forensiker werden, ich hätte soooo gerne Psychologie studiert (wenigstens!). Wie schade. Es ist sehr schwer, seine Träume zu begraben. Gibt es für diese Wehmut auch eine ICD10-Diagnose? Was gibt es Interessanteres als Beweggründe und Verhalten von Menschen!

  2. Dieser Bereich Psychiatrie bzw. der der Umgang mit den Patienten ist so toll…. Da ich selber in den Bereich arbeite weiß ich um diese tollen Begegnungen, wo man eine Menge lernt… auch wenn man es manchmal erst hinterher begreift…. Ich möchte nicht einer dieser Momente vermissen, die mich lernerfahungsmäßig weiter gebracht haben…. Mit einem Schmunzeln denke ich immer wieder gerne an den ersten Moment wo ich das Wort Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis gehört habe.. bei einer der ersten Übergaben auf Station in der damaligen Landesklinik Düren… Meine Augen waren wohl tellergroß…. Inzwischen ist der Begriff normaler Sprachgebrauch… Aber auch jetzt über 20 Jahre später gibt es immer noch diese Momente wo man mehr lernt als in der gesamten Schule zusammen….

  3. Christian Nunhofer Antworten

    Lieber Herr Teuschel, besser als bei den beiden Herren hätten Sie forensiche Psychiatrie wohl nicht lernen können. Was viele nicht verstehen – und manchen Psychotherapeuten offenkundig ganz und gar fehlt – ist die Erkenntnis, daß eine solide psychiatrische Diagnostik eine gewisse Systematik und Stringenz im Denken voraussetzt 😉 Bemerkenswert, daß Saß zur „Allgemeinen Psychopathologie“ von Karl Jaspers greift, um Klarheiten zu schaffen. Immerhin war Jaspers der intellektuelle Gegenspieler von Sigmund Freud, sinngemäßes Zitat: Die Psychoanalyse in der vorgestellten Form ist schlichtweg ruinös für das ärztliche Wesen.

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