Horror in Echtzeit: „Magersucht ist kein Zuckerschlecken“

Periplaneta ist der lateinische Name für die Schabe. Ein Verlag, der sich so nennt, wird nicht gerade im Verdacht stehen, Heimatromane oder sonstige seichte Literatur im Programm zu haben.

„Magersucht ist kein Zuckerschlecken“ passt insofern perfekt in das Image dieses Verlages, der immerhin Editionen namens Drachenfliege (dragonfly=Libelle) und Totengraeber (ein Käfer) sein eigen nennt.

Als alter Entomologe, der auch einen gepflegten Horror zu schätzen weiß, fühle ich mich da gleich wohl. Zumal es hier ja auch um ein Thema geht, mit dem ich beruflich früher sehr viel, jetzt immerhin noch gelegentlich zu tun habe: Essstörungen.

Kurz gesagt ist dieses Buch nichts für sanfte Gemüter. Es ist hart, direkt und schonungslos. Der Horror ist hier real.

Mara Schwarz (ein Pseudonym) beschreibt eine Phase von einigen Jahren ihrer bulimischen Anorexie. Patientinnen mit dieser Essstörung erbrechen gezielt und selbstinduziert, sind ansonsten aber „klassische“ Anorektikerinnen. Das dazu gehörige Körpergefühl heißt: Ich bin immer zu dick.

Die Anorexie ist eine ernste und häufig tödlich verlaufende Erkrankung. Je nach Untersuchung sterben zwischen 5 und 15% (!) der Patientinnen an den Folgen der Anorexie.

Was erwartet den Leser?

Überrascht war ich vom Anfang des Buches. Die ganze Vorgeschichte (wie kam es zu der Erkrankung?) wird im Zeitraffer, quasi in der Einleitung abgehandelt.

Was dann folgt, ist eine Beschreibung quasi in Echtzeit. Zumindest fühlt es sich so an. Mara Schwarz beschreibt detailliert ihre Gedanken und Gefühle, lässt den Leser teilhaben an ihrer Vorstellungswelt, die zutiefst obsessive Züge trägt. Alles dreht sich um das Körpergewicht und die vielfältigen Möglichkeiten, es zu reduzieren.

Mara Schwarz beschreibt sich als Sklavin ihrer eigenen inneren „Krake“, die bedingungsloses Abnehmen von ihr fordert. Gehorcht sie nicht, wird sie beschimpft und abgewertet.

Die quälenden inneren Monologe, das ständige Kreisen um nur ein einziges Thema in immer neuen Variationen ist oftmals schwer zu ertragen. Zwischendurch blitzt aber immer wieder ein grimmiger Humor auf, eine schwarze Ironie, auch Lyrisches ist immer wieder eingestreut.

Wer es schafft, sich auf den Text einzulassen, wird dafür belohnt mit einer (zumindest von mir) so noch nicht gelesenen Intensität und Ehrlichkeit, die einen hervorragenden Einblick in die innere Welt essgestörter Menschen gibt.

Ärzte und Therapeuten sind hier die längste Zeit nur „Feinde“, die das Hauptziel Gewichtsreduktion gefährden. Sie wie auch die Institution Klinik gilt es möglichst effektiv auszutricksen. In der psychiatrischen Klinik vereinbarte Gewichtsziele erreicht die Protagonistin nur mit dem Hintergedanken, nach der Entlassung möglichst schnell ihr gnadenlos niedriges eigenes Zielgewicht wieder zu erreichen.

Für mich besonders beeindruckend war die Darstellung der Psychiatrie in diesem Buch. Vom traumatischen Erlebnis in der Isolierzelle bis zum höchst unterschiedlichen Verhalten von Ärzten und Personal bekommt man einen sehr subjektiven, aber nicht durchgehend negativen Eindruck. So ist das Buch zwar durchaus psychiatriekritisch, aber in keinem Moment antipsychiatrisch. Im Gegenteil, Mara Schwarz bezieht immer wieder kritisch Stellung zu ihren eigenen Gedanken aus der damaligen Zeit. Die Therapeuten scheinen ihr manchmal fast leid zu tun.

Hier wird ein große Dilemma in der Behandlung essgestörter Patientinnen deutlich: Als Arzt und Therapeut hast du über einen langen Zeitraum keine Chance.

Eine meiner eigenen Patientinnen sagte mir Jahre nach der akuten Phase ihrer Anorexie: „Egal was Sie damals zu mir gesagt hätten, Sie hätten mich nie erreicht.“

Ähnliches formuliert Mara Schwarz. Ihre Essstörung, ihre „Krake“, wird ihr zu einem Dämon, der sie befallen hat und ihren freien Willen infiziert. Im Einklang mit dem zerstörerischen Treiben des inneren Monsters gerät die Autorin immer näher an lebensbedrohliche Zustände. Dabei gleitet sie auch in Alkoholmissbrauch ab.

Kurzfristige Rettungsanker sind ihre Zeichnungen, PAINtings genannt, Begegnungen mit anderen Patienten und auch einmal ein positiver Kontakt mit einem jungen Arzt.

Über den Ausgang des Buches soll nichts verraten werden. Immerhin sei so viel gesagt, dass ein unrealistisches Ende mit „Heilung“ der Anorexie nicht zu erwarten ist.

Dass das Buch trotzdem Mut macht, gegen die innere Hölle der Essstörung anzugehen und niemals aufzugeben, ist einer der Punkte, warum die Lektüre uneingeschränkt zu empfehlen ist.

Essstörungen sind grausame Erkrankungen, die ihr Opfer in die Einsamkeit und die Isolation zerren. Diese Grausamkeit wird in „Magersucht ist kein Zuckerschlecken“ greifbar dargestellt.

Kein einfaches, kein harmloses Buch.

Jeder, der mit Essstörungen zu tun hat, sei es als Arzt, Psychologe, Sozialpädagoge oder sonstwie therapeutisch Tätiger, sollte es gelesen haben.

Wer als allgemein Interessierter zu dem Buch greift, bekommt einen sehr guten Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt anorektischer Menschen.

Ebenfalls von Essstörung Betroffene finden im Buch von Mara Schwarz Parallelen zu ihrem eigenen inneren Erleben. Eine gewisse psychische Stabilität sollte für diese Lektüre allerdings vorhanden sein. Gut geeignet scheint mir das Buch, um es begleitend zu einer Therapie zu lesen und so ausreichend Möglichkeit zu haben, darüber zu sprechen.

Peter Teuschel

MARA SCHWARZ: „Magersucht ist kein Zuckerschlecken“
Eine Autobiografie, Buch, Softcover 232 S., 20,6×13,5cm, ISBN: 978-3-940767-91-2, Periplaneta Verlag, Edition Blickpunkt, GLP:  13,90 € (D)

2 Responses
  1. Zitat:
    „Über den Ausgang des Buches soll nichts verraten werden. Immerhin sei so viel gesagt, dass ein unrealistisches Ende mit „Heilung“ der Anorexie nicht zu erwarten ist.“

    Demnach gibt es bei echter Magersucht keine Heilung?

    Wenn man diese typische Fixierung auf das Gewicht, Abnehmen usw. nicht mehr hat, Essen wieder genießen kann ohne die Kalorien dazu im Kopf zu haben, keine Diät mehr hält bzw. sich in seinem Körper wieder wohlfühlt usw., war man dann überhaupt jemals richtig anorektisch?

    Bei richtiger Magersucht gibt es keine Heilung oder? Das hat man ein Leben lang oder?

    Wäre es dann nicht besser, man arrangiert sich mit der Erkrankung, statt eine unrealistische Heilung zu versuchen – die so gesehen scheitern muss?

    • Wenn man sich den Verlauf des Buches anschaut, wäre „Heilung“ in der Tat als Ausgang unrealistisch. Das sagt nichts darüber aus, dass Anorexie nicht „geheilt“ werden könnte.

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