„Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf. Eine Buchbesprechung

Selten habe ich so lange gezögert mit einer Buchbesprechung. „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf habe ich schon vor einiger Zeit gelesen. „Da müsste ich im Blog was dazu schreiben“, dachte ich mir. Um es dann ganz lange, bis heute, nicht zu tun. Ich kann gar nicht genau sagen, warum ich so lange gewartet habe.

Das Buch ist ein richtiger Schinken. Die gebundene Ausgabe hat 448 Seiten, das hat schon fast die Dimensionen eines historischen Romans.

aus

Aber das Buch ist kein Roman, sondern ein Tagebuch. Genauer gesagt, es sind Blogbeiträge in Buchform.

Der erste Eintrag ist vom 8.3.2010, der letzte vom 20.8.2013. Der Autor beschreibt sein Leben mit einem Hirntumor. Er schildert seine Besuche bei Ärzten, seine Klinikaufenthalte, seinen Umgang mit Freunden, mit der Familie. Der entscheidende Punkt am Buch aber ist, dass Herrndorf sein Innenleben protokolliert. Der Umgang mit der Diagnose, das Bangen, Hoffen, Verzweifeln, Weiterleben.

An einem ebenfalls am Glioblastom Erkrankten fasziniert ihn, dass dieser sich selbst eine Art „Arbeitstherapie“ auferlegt hat und nach einigem Nachdenken erkennt Herrndorf, dass das auch für ihn Programm ist:

„Arbeit und Struktur“

Das Buch ist lang und es ist manchmal schwierig zu lesen. Das liegt nicht am Stil des Autors, dieser ist durchaus kurzweilig und auch an manchen Stellen sehr witzig(!). Aber das Kämpfen gegen die Unvermeidlichkeit des Todes konnte ich mir nicht an allen Tagen und nicht stundenlang am Stück geben. Dieses für mich eher langsame Lesen hatte dann aber auch den Effekt, dass mir die Thematik immer weniger als eine spezielle Herrndorf-Geschichte erschien denn als universelle Beschreibung unserer Conditio humana. Von Anfang an dem Tode geweiht sind wir in der gleichen Situation wie der Autor des Buches, auch wenn unser Ende nicht so absehbar, so ausrechenbar ist wie seines war.

„Arbeit und Struktur“ ist nicht nur ein Buch über den Tod und das Sterben, sondern vor allem auch ein Buch über das Leben.

Die Elemente „Arbeit“ und „Struktur“ sind Bestandteil nahezu jeder psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Es sind allgemein gültige Mechanismen, die nicht nur bei depressiven Krankheitsbildern ihre Wichtigkeit haben. Sie sind nicht auf ein entferntes Ziel ausgerichtet, sondern bedeuten Tätigkeit und Halt in der Gegenwart.

Um allen Einwänden vorzubeugen: Natürlich ist es keine Option, nur noch zu arbeiten und sich an falsche Strukturen zu klammern. Aber strukturlos und ohne Arbeit durch den Tag zu gehen, ist auf Dauer eben auch keine gute Lösung.

Aus medizinischer Sicht ist das Buch ebenfalls sehr lesenswert. Gerade die psychiatrischen Symptome des Gehirntumors, die sich bei Herrndorf im Auftreten eines manischen Syndroms äußern, erinnern jeden Leser, der „vom Fach“ ist, die organische Abklärung psychischer Störungen ernst zu nehmen.

Mich hat „Arbeit und Struktur“ aber nicht durch diese medizinischen Aspekte beeindruckt. Mir ist die Ehrlichkeit des Autors nahe gegangen, der mit Akribie und Schonungslosigkeit seine nachlassenden geistigen Fähigkeiten dokumentiert und der es versteht, schwer zu beschreibenden psychischen Phänomenen Sprache zu verleihen.

Und es kommt selten vor, dass ich bereits nach dem Vorwort weiß, dass dieser Autor mich gekriegt hat. Diese kurze Sequenz „Dämmerung“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie Wolfgang Herrndorf eines der Grundprinzipien unseres Lebens in Worte zu fassen versteht: Wir kommen zur Welt, und ab diesem Zeitpunkt bewegen wir uns – alternd – durch die Zeit. Unaufhaltsam, unumkehrbar. Wir wollen uns festhalten, wollen, wie Goethes Faust, „zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!“. Wir sammeln Eindrücke, auf die wir sehnsuchtsvoll zurückblicken. Wir wollen auf die Bremse steigen, weil wir nicht wissen, wo es hingeht. Und müssen feststellen, dass diese Bremse nicht funktioniert. Eine seltsame Erfindung, dieses Leben.

Arbeit und Struktur sind Möglichkeiten, eben diesem Leben etwas Selbstbestimmung und Sinn zu verpassen.

Das Buch von Wolfgang Herrndorf ist ein beeindruckender Text, der allerdings ein Mindestmaß an psychischer Stabilität voraussetzt. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass der Autor seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.

Ich hoffe, dass ich nicht gegen irgendwelche Copyrights verstoße, wenn ich „Dämmerung“ hier zitiere:

Dämmerung

Ich bin vielleicht zwei Jahre alt und gerade wach geworden. Die grüne Jalousie ist heruntergelassen, und zwischen den Gitterstäben meines Bettes hindurch sehe ich in die Dämmerung in meinem Zimmer, die aus lauter kleinen roten, grünen und blauen Teilchen besteht, wie bei einem Fernseher, wenn man zu nah rangeht, ein stiller Nebel, in den durch ein pfenniggroßes Loch in der Jalousie bereits der frühe Morgen hineinflutet. Mein Körper hat genau die gleiche Temperatur und Konsistenz wie seine Umgebung, wie die Bettwäsche, ich bin ein Stück Bettwäsche zwischen anderen Stücken Bettwäsche, durch einen sonderbaren Zufall zu Bewusstsein gekommen, und ich wünsche mir, dass es immer so bleibt. Das ist meine erste Erinnerung an diese Welt.
Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.
©Rowohlt Verlag

Wolfgang Herrndorf 2011 (creative commons)

Wolfgang Herrndorf 2011 (creative commons)

Peter Teuschel

3 Responses
  1. Danke, dass Sie dem Autor ein so schönes Geschenk in Form Ihrer genialen Rezension machen.
    Danke, dass Sie uns seine Welt so eindrücklich darstellen. Ich werd heute einfach eine Kerze für ihn anzünden.

  2. Alle Lust sucht Ewigkeit!
    Sucht tiefe, tiefe Ewigkeit.

    Gefunden vor Jahren auf einem Grabstein bei Bremen. Daran wurde ich durch Ihren Beitrag wieder erinnert.

  3. Das Leben schreibt oft die fiesesten Tragödien ! Ob es wohl einen Autor dazu gibt ?
    In einem Interview sagte Herrendorf sinngemäß:” Fast mein ganzes Leben lang hab` ich von der Hand in den Mund gelebt und jetzt da ich reich bin und mir nie mehr Sorgen um Geld machen muss, gibt es nichts was mich weniger interessiert.”
    Sein Tod hat mich sehr getroffen, hat mich auch schockiert und doch respektiere und achte ich seine Entscheidung.
    Ihre gelungene und sensible Rezension dieses Buches, Herr Teuschel, hat mich neugierig gemacht und ich wird` es auch lesen. Dank dafür.
    Das Zitat von Nietzsche: “Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe,tiefe Ewigkeit.”, wirft bei mir eine Frage auf ; was wenn die Lust wirklich ewiglich wird ?, was passiert wenn die Augenblicke wirklich verweilen ?
    Wird dann die Lust nicht langweilig?
    Das ist irgendwie ja auch tröstlich denn die Endlichkeit und die Vergänglichkeit wird so zur conditio sine qua non der Existenz schlechthin.
    Dazu auch eine Buchempfehlung: “ Alle Menschen sind sterblich” von Simone de Beauvoir. Ich kann nicht rezensieren, aber dieses Buch, das mir wichtig war, fiel mir ein zu dem Thema.

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