Schon witzig, erst letzte Woche habe ich festgestellt, dass am Donnerstag die Hälfte meiner Patienten ungeimpft war. Und vorgestern war wieder Donnerstag. Klar, was jetzt kommt, oder?
Obwohl es ganz andere Patientinnen und Patienten waren, das Donnerstag-Thema Nr. 1 war Impfen.
Patientin Nr. 1 gehört zum harten Kern der Corona-Skeptiker, um es mal vorsichtig zu formulieren. Die mRNA -Impfung ist Gen-Beeinflussung und „Gift“, in Deutschland ist es ohnehin nicht mehr auszuhalten, so ist der Grundtenor bei meiner Patientin. Diskussionen über dieses Thema, darüber sind wir uns einig, bringen nichts. Ich bin anderer Meinung, aber das ist nicht Gegenstand unserer Termine. bei denen geht es um andere, ganz konkrete Fragestellungen.
Was aber wichtig ist: Im Hintergrund steht ein schreckliches Schicksal bei meiner Patientin, etwas Grausames, das sich so nur das Leben ausdenken kann. Schauplatz war Deutschland und ich vermute, dass das nicht zu verarbeitende Trauma (das weiter läuft) auf das ganze Land generalisiert wurde. In diesem Staat, in dem derartiges geschehen ist, kann ich nicht mehr bleiben und alles, was dort passiert, ist schlecht. So ist meine Interpretation.
Thematisiere ich das mit der Patientin?
Nein, zum einen sind wir nicht in einem psychotherapeutischen Setting, zum anderen ist nach meiner Einschätzung alles zu frisch, das Ausagieren scheint im Moment noch wichtiger als die Bewusstmachung, weil diese eine Überforderung wäre und ohnehin abgewehrt werden würde. Vielleicht kann sich die Patientin in einigen Jahren dieser inneren Wahrheit annähern. Vielleicht ist meine diesbezügliche Vermutung ja auch falsch und diese Psycho-Ebene existiert gar nicht in dieser Weise. Vielleicht wird eine Auseinandersetzung der eigenen Verschiebung des Erlebten auf Deutschland und Corona nie möglich sein.
Wir erledigen das, was wir erledigen müssen, ich empfinde tiefes Mitgefühl für meine Patientin, wenn ich auch ihre Einstellung und die Entscheidung gegen das Impfen nicht teile oder gutheiße.
Patient 2 ist auch nicht geimpft. Hier ist es mehr das „innere Gefühl“, eines der schwer auszuhaltenden Argumente angesichts der Tatsache, das dieser Patient Akademiker ist und es eigentlich „besser wissen“ müsste.
Aber bei der Schilderung der aus der Impfweigerung resultierenden Konsequenzen steigt eine Assoziation in mir auf. Die zunehmende Isolation als Ungeimpfter weist Parallelen auf zu einer anderen Situation aus dem Leben meines Patienten, ambivalent verankert und immer wieder quälend reaktiviert. Eine unbewusste Reinszenierung im Sinne des Freud´schen „Wiederholungszwangs“, die hier als Mosaikstück die Impfverweigerung mit gestaltet? Mein Patient kann sich auf diesen Aspekt einlassen. Ich gebe zu bedenken, dass die Inszenierung aktuell möglicherweise durchlebt werde muss (so schnell bekommt er ohnehin keinen Impftermin), dass dann aber ein Loslassen des Alten und Quälenden erfolgen kann, was eine Impfung zum Selbstschutz möglich macht.
Patientin 3 hat als ängstliche Grüblerin hin und her überlegt, sich alle möglichen Infos beschafft und „eigentlich“ durchaus eingesehen, dass die Impfung sinnvoll ist. Aber dann haben im letzten Moment doch immer wieder irrationale Ängste die Oberhand gewonnen und die Impfung wurde vertagt. Diese Patientin ist eine der wenigen, die mich offen gefragt haben, was mein Rat wäre. In solchen Fällen mache ich natürlich kein Hehl daraus, dass ich zur möglichst raschen Impfung rate. Den Einwand, sie würde nirgendwo einen Impftermin bekommen, konnte ich durch einen konkreten Vorschlag entkräften.
Das hat zwar nicht geklappt, berichtet sie mir beim Donnerstag-Termin, aber den Schwung habe sie mitgenommen und wohnortnah einen Arzt gefunden, der ihr einen zeitnahen Termin angeboten hat. Jetzt ist sie frisch geimpft, ist gleichermaßen erleichtert und stolz.
Was ist mein Fazit dieses Impf-Donnerstags aus psychiatrischer Sicht?
Fragt mich jemand: „Impfen oder nicht?“ ist meine Antwort ganz eindeutig: Nur so kann man sich und andere sinnvoll schützen, nur so kommen wir aus der Pandemie raus.
Im Detail stellt es sich für mich als Psychiater und Psychotherapeut aber differenzierter dar. Unbewusste Faktoren, Ängste, Reinszenierungen, Verschiebungen und Verdrängtes finden sich in dem ganz persönlichen Psycho-Kessel meiner Patientinnen und Patienten, wenn es ums Impfen geht. Über die in einer präpubertären Abwehrhaltung Festsitzenden habe ich ja bereits hier geschrieben.
Mein Beruf ist es, genau hinzuschauen, zu verstehen und Unbewusstes verstehbar zu machen. Beim Thema Impfen natürlich auch mit dem Ziel, hier den Weg für den wichtigen Piks zu ebnen.
Ist es nun ein Privileg, hinter die Psycho-Kulissen schauen zu können oder ein Fluch, dass ich es mir nicht ganz so einfach machen kann, alle Nicht-Geimpften über den Kamm der Verständnislosigkeit zu scheren, auch wenn ich Impfen derzeit als erste Bürgerpflicht ansehe?
Peter Teuschel
Wir wissen ueber den Menschen viel zu wenig, daher urteile ich nicht. Ich will mich aber trotzdem vor allem schuetzen, was mir schadet.