Nochmal Literatur: „Wolf“ von Sasa Stanisic

Nachdem ich mit dem Nachruf auf Cormac McCarthy erst kürzlich einen Schriftsteller gerühmt habe, mache ich jetzt gleich mal weiter. Sasa Stanisic brauche ich wohl kaum mehr vorstellen. Sein „Vor dem Fest“ hat ihm den Preis der Leipziger Buchmesse eingebracht und „Herkunft“ den Deutschen Literaturpreis. Ein unglaublich sympathischer Autor, deutsch-bosnisches Amalgam, nach meiner Erfahrung prädestiniert so eine transnationale Herkunft zu einem freieren Blick auf vieles.

Wahrscheinlich würde er so eine Plattitüde mit sanft sarkastischem Humor entwaffnen. Denn das kann er gut, entwaffnen.

Der Held des Buches „Wolf“ würde auch Waffen abschaffen, wenn er könnte. Allerdings nur als zweites, das erste wären Stechmücken, denen jede Lebensberechtigung abgesprochen wird. Dieses Buch ist ein Roman, der auf einer Kurzgeschichte von Stanisic basiert. Ich habe sie nicht gelesen, werde das aber aus reinem literarischen Interesse bald nachholen.

Warum habe ich „Wolf“ gelesen?

Irgendwo bin ich über eine Rezension gestolpert und darin ging es um Jugendliche, um Ferienlager, um Mobbing und ich dachte mir: Wenn sich Sasa Stanisic solcher Themen annimmt, dann ist das eine Pflichtlektüre.

Den Roman kann man in einem Stück durchlesen, zumindest habe ich das getan, an einem Tag in der Praxis, zwischen Patiententerminen, in der Mittagspause, nach der Sprechstunde.

Bücher, die vom Leben Jugendlicher handeln, sind entweder authentisch, will sagen, ehrlich, oder sie sind furchtbar schlecht. Wenn man als Erwachsener darüber schreibt, wie das Leben mit 14, 15, 16 ist, muss man sich zum einen genau daran erinnern, wie man sich in diesem Alter gefühlt hat und zum anderen muss man wissen oder ahnen, welche Themen nicht nur in der eigenen Jugend, sondern in der aller Generationen eine Rolle spielen.

Die Jugend ist die ehrlichste Zeit des Lebens. Davor, als Kind, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus, reflektiert aber noch nicht über das Dasein. Nach der Jugend fängt man an, Kompromisse zu machen, bis man als Erwachsener in das eine oder andere Schema passt. Literarisch gesehen entspricht der Jugend in der deutschen Literatur vielleicht am ehesten die „Sturm- und Drang“-Periode. Goethes „Werther“ fällt in diese Periode und die deutsche Literaturrezeption hat sich immer schon bemüßigt gefühlt, Goethe zu bescheinigen, er habe ab einem gewissen Zeitpunkt seine „Sturm-und Drang“-Periode „überwunden“. Fast schon Geschwurbel, das.

Was ich sagen will: Es ist verdammt schwierig ist, gute Bücher über Kinder und Jugendliche zu schreiben.

Astrid Lindgren hat die vielleicht eindrucksvollsten „Kinderbücher“ geschrieben. Das Zusammentreffen von Kindheit und Jugend mit Krieg und Zerstörung ist sicherlich eines der dramatischsten Spannungsfelder der Literatur und hier hat Astrid Lindgren Unglaubliches vollbracht. Ein zweiter Autor, der sich, von mir hochgeschätzt, in diesem Genre auskennt ist – Stephen King. Für mich ohnehin als „Horror-Autor“ zwar richtig etikettiert, andererseits aber auch gnadenlos fehlreduziert, habe ich bei ihm den Eindruck, auch er hat nicht vergessen, wie es damals war, so mit 14 oder 15 oder 16. Dieses Alter, in dem man realisiert, dass da neben der eigenen Grandiosität und Unverwundbarkeit noch etwas anderes existiert, das böse, destruktiv und tödlich ist.

Mit anderen Worten, mir kann man es nicht so leicht recht machen mit Jugendliteratur, die ich ernst nehmen kann.

„Wolf“ habe ich in der Hoffnung angefangen, dass Sasa Stanisic es mir höchstwahrscheinlich wird recht machen können.

Ja, es ist sein humorvoller Still, der so unwiderstehlich ist, dass ich seine Helden lieben muss. Aber er versteht es auch, immer wieder Szenen zu schaffen, in dennen ich mich frage: Wie geht es jetzt wohl weiter? Klar hofft man, dass das Gute siegt und Gerechtigkeit die Oberhand behält. Aber auf welche Weise das in „Wolf“ immer wieder passiert oder auch mal in Frage steht, das unterscheidet eben gute Literatur von nicht so guter.

Die Geschichte spielt in einem Ferienlager, in das der Erzähler von seiner Mutter geschickt wird und in dem es um Erzieher mit sprechblasenartigen Erziehungsmethoden, um mobbende Bullies, Außenseiter und nicht zuletzt eben um „Wolf“ geht. Unser „Held“ (wie ist eigentlich sein Name?) hasst Ferienlager, den Wald, die Stechmücken und eigentlich auch fast alles andere, aber seine alleinerziehende Mutter braucht mal etwas Abstand und deshalb fährt er mit. Er teilt sich eine Hütte mit dem Mega-Außenseiter und designierten Mobbing-Opfer Jörg, der von anderen Jungs drangsaliert wird, weil er „anders“ ist, aber noch „andersiger“ gemacht wird von denen, die keine Individualität ertragen, und sei sie noch so harmlos.

Sasa Stanisic umschifft dabei alle Klippen der Vorhersehbarkeit, der vermutlichen Leserwünsche und der einfachen Lösungen. Ja, ich habe die guten Jungs in diesem Buch geliebt (es gibt auch Mädchen, aber um die geht es nicht. Also manchmal schon, aber … das führt hier jetzt zu weit …), ich habe voller Staunen gelesen, wie sie mit schwierigen Situationen umgehen und ich hatte immer das Gefühl, es ist ehrlich, was ich da lese.

Was ist mit „Wolf“? Er taucht in einer Nacht in der Hütte der beiden Jungs auf, bedrohlich, unglaublich real und mit gelb leuchtenden Augen. Mit dem Wolf bringt Sasa Stanisic etwas ins Spiel, das wir als Erwachsene wahrscheinlich verloren haben oder für das wir lange und tief in uns hineinschauen müssten, um es wieder zu finden. Astrid Lindgrens Traumwelten, zum Beispiel in „Mio mein Mio“ oder Stephen Kings „Es“ öffnen Türen zu ähnlichen Seelenräumen. Dass der Wolf nicht abgegriffen und plakativ, sondern echt und unverbraucht rüberkommt, ist Sasa Stanisic‘ Erzählkunst zu verdanken. Er ist ohnehin ein Meister der Formulierung , der Überraschung, der ironischen Brechung. Ich kenne wenig Autoren, die ich lieber lese.

Die Themen von „Wolf“, seine Charaktere, die Ehrlichkeit in ihren Handlungen und die stets vorhandene Ebene von Menschlichkeit, prinzipiellen Fragestellungen und entwaffnenden unpathetischen Antworten haben diesen Roman für mich zu einem bemerkenswerten Erlebnis gemacht.

Kurz und absolut lesenswert: „Wolf“ von Sasa Stanisic.

Peter Teuschel

Bild ©Peter Teuschel

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