Massenhysterie und Spiegelneurone

Ein Fall von Massenhysterie

Anfang des Jahres machte eine Meldung die Runde, dass in der kleinen Stadt Le Roy im Westen von New York mehr als ein Dutzend Mädchen im Teenager-Alter an eigenartigen Symptomen erkrankt war.

Sie wiesen Tics, Zuckungen und andere unwillkürliche Bewegungsstörungen auf, wie sie am ehesten bei der Tourette-Störung gesehen werden.

Angeschuldigt wurden zunächst verschiedene Umweltfaktoren wie Toxine oder auch Streptococcus-Infektionen, wobei schon auffällig war, dass keine Erwachsenen und auch kaum Jungen erkrankt waren.
Nachdem alle diese Faktoren ausgeschlossen waren, einigten sich die dortigen Experten darauf, dass dies ein klassischer Fall von Massenhysterie war.

Massenhysterische Phänomene werden gehäuft bei Menschen beobachtet, die zusammen in irgend einer Form der Gemeinschaft (Schule, Wohnhaus etc.) leben. Oft gibt es einen Auslöser (z.B. seltsamer Geruch auf dem Gang).

Körperliche Symptome ohne organische Grundlage können als rein „neurotische“ Störung auftreten und werden dann als „Konversionsstörung“ bezeichnet. Beispiele sind psychogene Blindheit oder psychogene Lähmungen.

Der Altvater der Psychotherapie, Sigmund Freud, war der Meinung, dass konversionsneurotische Symptome durch die Verdrängung unerträglicher Erinnerungen entstehen.
Modernere Theorien führen eine fehlerhafte Verschaltung verschiedener Hirnareale als Ursache der rätselhaften Störung an.

Die taiwanesischen Autoren Lee und Tsai (s.u.) haben sich die Frage gestellt, ob Phänomene von Massenhysterie (also das Auftreten von Konversionsstörungen bei mehreren Menschen) nicht durch das Konzept der so genannten Spiegelneurone erklärt werden könnte.

In der Diskussion: Spiegelneurone

Was sind Spiegelneurone?
Nachgewiesen sind diese Gehirnzellen bei Menschenaffen, beim Menschen wird intensiv darüber diskutiert, ob und in welcher Funktion diese Neurone auch im menschlichen Gehirn zu finden sind. Spiegelneurone sind gleichermaßen aktiv bei einer ausgeführten wie bei einer beobachteten Handlung. Also der Affe sieht einen anderen Affen, der sich am Kopf kratzt. Im Gehirn des Beobachters ist jetzt ebenfalls das Neuron für Kopfkratzen aktiv.

Man nimmt an, dass Spiegelneurone wichtig sein könnten für das Einfühlen in andere Menschen, ebenso für Lernprozesse. Autistische Störungen werden in Zusammenhang gebracht mit einem postulierten Fehlen von Spiegelneuronen, so dass beispielsweise Patienten mit einem Asperger-Syndrom (eine spezielle Form des Autismus) Handlungen und Gefühle ihres Gegenübers schlecht bis gar nicht einschätzen können.
Wichtig für die Funktion der Spiegelneurone seien auch inhibitorische Systeme im Gehirn, die dafür sorgen, dass nicht jede beobachtete Handlung gleich nachgeahmt wird.

Beispiele für die (vermutete) Aktivität der Spiegelneurone sind das „ansteckende“ Lachen eines anderen oder auch das Mitgähnen, wenn einer mal damit anfängt.

Im Rahmen ihrer Forschungen haben Lee und Tsai vier Faktoren angeführt, die das Auftreten von Massenhysterie durch die Tätigkeit von Spiegelneuronen erklären könnte:

1. Eine Störung im oben erwähnten inhibitorischen System bei manchen Individuen könnte dazu führen, dass sie andere schneller und bereitwilliger nachahmen.
2. Massenhysterische Entwicklungen schaukeln sich oft über visuelle und auditorische Reize auf. Spiegelneurone sind ebenfalls beim Sehen und Hören aktiv.
3. Das durch Spiegelneurone vermittelte „Mitfühlen-Können“ kann zu einer „emotionalen Ansteckung“ führen, die die Ausbreitung konversionsneurotischer Symptome auf andere Menschen fördern könnte.
4. Die Aktivität der Spiegelneurone scheint besonders hoch bei Menschen weiblichen Geschlechts zu sein. Und: Bei massenhysterischen Ereignissen sind Frauen überrepräsentiert.

Andrew N. Wilner (s.u.) aus New London, Connecticut bringt diese Überlegungen jetzt in Zusammenhang mit den Pseudo-Tourette-Teens aus Le Bray. Eine beachtenswerte Theorie und insgesamt ein spannendes Kapitel der aktuellen Hirnforschung.

Quellen:

1. Die Studie von Lee und Tsai (Abstract)

2. Wilners Beitrag auf Medscape (evtl. Registrierung erforderlich)

Peter Teuschel

 

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