Was klingt wie ein Code für ein Toxin oder eine Nahrungsmittel-Ergänzung ist eine der wichtigsten Neuerungen in der kommenden ICD 11 – einer neuen Auflage der Diagnosenverschlüsselung in der Medizin.
Vor jeder Neuerung der „International Classification of Diseases“ – auf „gut deutsch“ also der ICD – findet eine Umfrage bei Fachärzten statt, welche diagnostische Verschlüsselung sie am meisten vermissen. Im Falle der Psychiater war es die „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“.
Mich hat da zwar keiner gefragt , aber ich hätte die gleiche Antwort gegeben. (Ein klarer Fall von „Ich habs ja schon immer gesagt, aber auf mich hört ja keiner“ 😉 )
Eines der größten Mankos im Bereich der posttraumatischen Störungen war, dass für diese Diagnose ein Trauma gefordert war im Sinne eines Mordanschlags, einer Vergewaltigung, eines Tsunamis oder ähnlicher Katastrophen. Das deckte natürlich viele Auslöser einer PTBS ab, außen vor blieben aber Patienten, die alle Symptome dieser Störung aufwiesen, aber kein entsprechendes Trauma erlebt hatten.
Mein diesbezüglicher Blogbeitrag ist auch schon knapp 10 Jahre alt („Ich habs ja schon immer …“ Sie wissen schon.)
Ich will das jetzt nicht alles wiederholen, weil es schon im alten Artikel steht. Und der will auch wieder ein paar Klicks haben.
Jetzt also wird das geändert und die „Komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ erblickt offiziell das Licht der Welt. (Irgendwie liebe ich diese abgegriffenen und in manchen Fällen – wie hier – völlig unpassenden Redewendungen.) Bei der komplexen (oder kumulativen!) PTBS besteht das Trauma eben nicht aus Leib und Leben unmittelbar bedrohenden Ereignissen, sondern es liegen Belastungen zugrunde, die sich über einen längeren Zeitraum entwickelt haben und die vor allem durch Menschen ausgelöst wurden. Die letzte Formulierung ist wichtig und ich bin froh, dass das so implizit genannt wurde. Hier bildet sich alles ab, was wir unter Mobbing, Diskriminierung, psychischer Gewalt und ähnlichen Grausamkeiten verstehen.
Wir Psychiater, Psychotherapeuten und alle anderen, die genau hinschauen, haben diese Verursachung posttraumatischer Störungen seit langem beobachtet und standen vor dem Dilemma, dass wir zwar diese traumatisierten Patienten hatten, ihnen aber nicht die Diagnose PTBS geben konnten – weil das Trauma scheinbar fehlte. 6B41 ändert das.
Auch wenn die ICD 11 noch nicht offiziell in Kraft getreten ist, habe ich die Diagnose 6B41 schon mehrfach in Attesten und Bescheinigungen verwendet – so wichtig war es, die zur Erkrankung führende Traumatisierung endlich auch als solche benennen zu können.
Maßgeblich für die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Störung sind zwei der folgenden fünf Symptome :
– feindliche oder misstrauische Haltung
– sozialer Rückzug
– andauerndes Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit
– andauerndes Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung ohne äußere Ursache
– andauerndes Gefühl der Entfremdung (anders als die anderen zu sein).
Bei den Patienten, denen ich die Diagnose bescheinigt habe, trafen nicht nur drei, sondern alle dieser Kriterien zu. Es sind schwere Störungen, die das Leben der Betroffenen nachhaltig und einschneidend verändern.
Und ja, durch diese neue Möglichkeit der diagnostischen Zuordnung benennt man nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Bei meinen Patienten waren es sehr unterschiedliche Arbeitsplätze, die sich durch starke Hierarchisierung, fehlende Kontrolle „von außen“ und dadurch eine gewisse „Unangreifbarkeit“ der Traumatisierer auszeichnen. Im Geiste sammle ich schon Kriterien, die solche traumatisierenden Arbeitsplätze auszeichnen.
Überlegt man noch etwas weiter, so stellt sich die Frage, welche anderen „Systeme“ in der Lage sind, komplexe und kumulative posttraumatische Belastungsstörungen hervorzurufen. Ich denke da an Familien, Beziehungen jeder Art und andere menschliche Gemeinschaften jenseits der Arbeit.
Es geht mir nicht darum, den Traumabegriff auf alles mögliche Belastende auszuweiten. Aber wenn ich traumatisierte Patienten mit den oben genannten Beschwerden sehe, habe ich das dringende Bedürfnis, ihnen auch die richtige Diagnose geben und die daraus folgernde Therapie verordnen zu können.
Der Hinweis auf schädigende Strukturen, die immenses menschliches Leid verursachen und bislang im Schutz ungenügender diagnostischer Kriterien ihr Unwesen treiben konnten, ist mir nicht nur ein ärztliches, sondern ein menschliches Bedürfnis.
Ich darf hier das Ende der Dreigroschenoper zitieren, eines wunderbaren Bühnenstücks meines sehr verehrten Autors Bert Brecht. In abgewandelter Weise ist sein gesellschaftskritischer Standpunkt auch auf die Welt psychischer Störungen anwendbar:
„Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Mit 6B41 können wir denen im Lichte psychiatrischer Diagnosen besser helfen, ihre Störung gezielter zu behandeln. Und wir können einen Scheinwerfer einschalten und ihn auf die Täter im Schatten richten. Das behandelt nicht Patienten, sondern unsere Gesellschaft. Denn auch die ist manchmal krank.
Peter Teuschel
Ja. Das Böse kann banal sein. – Und hinter jedem Brandstifter ist oft ein gut getarnter Biedermann, der anderen das Leben entsetzlich schwer macht. – Das aufzudecken und zu benennen braucht Systeme der Definition und Klassifizierung. Und wenn die entstehen durch Abrechnungssysteme von Ärzten ist das doch ein gutes Mittel zum Zwecke der Bewusstheit. Da beißt sich dann kein Haifisch mehr einen Zahn aus, denn auch Wahrheiten können so profitieren. Prima
Beitrag mit Aha-Erlebnis. Dachte immer, dass zu einem „Trauma comme il faut“ auch das entsprechende einschneidend dramatische Ereignis gehört. Dieser Artikel lässt, auch für uns Laien verständlich, PTBS in einem neuen Licht erscheinen.
Neues Licht? PTBS ist nicht komplexe PTBS!
Das war es ja auch seit Jahrzehnten und wird es bei einem einmaligen Extremtrauma auch bleiben – deshalb ist es gut, dass die Diagnose – komplexe posttraumatischeBelastungsstörungg endlich kommt.
Die Chance, sich bei einem einmaligen, einschneidenenden Erlebnis mit guten resillienten Voraussetzungen wieder zu erholen, sind weitaus besser, als wenn Ihnen dauerhaft täglich, die Seele geraubt wird.
Selbst für Überlebende von KZ, Kriegstrauma und den Erkrankungen folgender Generationen gab es bisher eine Diagnose. Und eine gesicherte Diagnose garantiert auch immer die Kostenübernahme von Krankenkassen.
Die gab es bisher nicht für komplex, traumatisierte Menschen.
Wenn Sie als Kind jedoch dauerhaft von traumatischen Situationen betroffen sind, in denen Sie nicht lernen können, dass die Menschen an Ihrer Seite der größte Schutz, sondern die größte Bedrohung bedeuten, werden Sie niemals vertrauen können. Es wird Sie immer verwirren, wenn jemand freundlich zu ihnen ist, und eher zweifeln Sie an sich selbst, weil alle um sie herum in der – sogenannten normalen Gesellschaft – solche Ereignisse nicht kennen oder leugnen würden.
Auch Opfer von Mobbing, Stalking und Gasligthing im Erwachsenenalter, können so Tag für Tag zermürbt, und alle Gedanken an das Gute im Menschen zutiefst (v)erschüttert, werden.
Tun Sie sich selbst einen Gefallen – belesen und informieren Sie sich. Es gibt mehr Betroffene in Ihrer nächsten Umgebung, denen Sie nicht als Laie mit netten Worten helfen können.
Aber letzlich ist das doch nur eine Begriffsbestimmung. Die Patienten ohne die genannten Trauma, aber mit allerlei Symtomen, sind doch bisher auch behandelt worden? nur unter anderen Bezeichnungen? Und letzlich ist es für einen Psychologen doch nur wichtig, den Menschen, der krank ist, genau zu verstehen und zu verstehen, an welchen inneren Gedankenmustern er mit dem Patienten arbeiten muss, damit dieser fähig wird, seine Symtome zu lindern oder Probleme selbst anzugehen. Ob das nun ein 6B41 oder sonst ein Begriff ist?
Eine „Begriffsbestimmung“ ist keine Diagnose. Das ist so, als würden Sie „Bauchschmerzen“ behandeln und nicht die dahinter stehende Ursache (also eine Blinddarmentzündung, eine Endometriose oder eine Colitis ulcerosa).
Natürlich sind die Menschen mit einer Traumatisierung auch behandelt worden, aber eben nicht auf eine Weise, die ihrer Erkrankung entspricht.
Und eine Psychotherapie besteht nicht daraus, die Gedankenmuster des Patienten zu verstehen und ihn in die Lage zu versetzen, seine Probleme selbst anzugehen. Das mag für manche Störungen zutreffen, aber nicht für PTBS.
Mich hat da zwar keiner gefragt, aber ich hätte die gleiche Antwort gegeben.
Ein klarer Fall von: „Ich habs ja schon immer gesagt, aber auf mich hört ja keiner.“
Tun Sie das nicht!
Ich bin mir sicher, Sie waren immer im allerbesten Sinne für Ihre Patienten präsent.
Sie haben es immer gesagt und nun wird es für all Ihre Patienten Realität. Und für neue Generationen von Psychiatern und Psychologen bringt dies eine bessere Behandlungsmöglichkeit.
Und nur durch Menschen, wie Sie, die es immer wieder sagen und wagen, ändern sich die Diagnose-Systeme.
Und zusätzlich langfristig auch durch epigenetische Untersuchungen, die halte ich für sehr wichtig.
Ich hatte das Glück, 2009 am ZI in Mannheim an einer Studie zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung teilzunehmen. Rückblickend kann ich sagen, erst da haben ich verstanden, was mich ausmacht und was nicht.
Und so habe ich auch Menschen kennen gelernt, die noch nicht mal ein annähernd, ähnliches Traumabild wie ich selbst in sich trugen.
Einen Mensch, der unglücklicherweise zweimal dieselbe extreme körperliche Traumaerfahrung nach 20 Jahren ertragen musste; einen Mensch, der in einer sektenähnlichen Gemeinschaft seit Kindheit traumatisiert wurde und sogar in der Therapie weiterhin, instrumentalisiert durch diese wurde; einen Mensch, der durch einen bedingten Autismus mit Hochinteligenz in der Kindheit durch andere Kinder gequält wurde.
Alle Lebenswege meiner Mitmenschen waren unterschiedlich. Die Auswirkungen auf ihre Gesundheit durchaus vergleichbar.
Langfristig gesehen auch, wie in den von Ihnen geschilderten Diagnosekriterien. Das ist nicht nur traurig – es gehen uns wichtige Talente verloren in der Gesellschaft.
6B41 – Mag eine Diagnosezahl sein – die für Sie klingt, wie B 65O Rattengift. Es ist jedoch nur eine neue Zahlenkombination in den Diagnosesystemen und ich finde diese auch nicht sehr passend. Für Patienten muss die Diagnose erklärbar sein, nicht durch eine KK-Abrechnungszahl. In diesem Sinne haben Sie in meinen Augen bedeutende Aufklärungsarbeit bezüglich der Internetproblematiken angestossen.
In diesem Sinne, würde ich als Ihre Enkel sagen – Opa fang die dicken Brummer auf der großen Mauer des Lebens.
Vielen Dank für die Verbreitung dieser Information.
Das wird die medizinische Begleitung von Mobbingbetroffenen „vereinfachen“. Diese nun offizielle Diagnose lässt sich gegebenenfalls auch als Argument beim BEM oder im betrieblichen Akut-Mobbing-Fall gegenüber der Personalabteilung einbringen.
Leider gibt es Experten (insb. Juristen), die immer noch die von Heinz Leymann 1993 eingebrachte Mindest-Untergrenze von einem halben Jahr für die erlaubte Feststellung, dass Mobbing vorliegt, als Junktim ansehen. Die kumulativen Schrecklichkeiten unterhalb von 6 Monaten zählen sozusagen nicht, es sei denn (und dann ab sofort?), sobald diese Grenze überschritten wurde.
Die 6-Monats-Grenze ist aus meiner Sicht der größte Hemmschuh bei Mobbing-Beurteilungen. Darauf habe ich auch mehrfach hingewiesen, z.B. hier.
Das soll Leymanns Verdienst in keinster Weise schmälern, aber wir müssen natürlich unsere Erkenntnisse aus unzähligen Begleitungen und Behandlungen Mobbing-Betroffener ernst nehmen und es gibt keinen Grund, hier in den 1990er Jahren stehen zu bleiben. Tatsache ist, dass psychische Störungen durch Mobbing eben deutlich schneller als nach einem halben Jahr auftreten können. Zumindest deckt die neue Diagnose jetzt die Fälle ab, die eindeutig Symptome einer PTBS aufweisen und die man bisher durch den „Knebel“ Kriterium A nicht als posttraumatisch diagnostizieren konnte.
Aus meiner (natürlich eingeschränkten und subjektiven) Sicht gibt es weiterhin nur wenig Juristen, die sich mit dem Thema Mobbing modern und kreativ auseinandersetzen.
Ein sehr interessanter Beitrag, der auch viele neue Aspekte aufzeigt. Es ist gut, wenn es Behandlungsmethoden gibt. Wie CBD welche potenziellen gesundheitlichen Vorteile bieten kann. Kann auch eine Chance sein.