Charmante Giulia, rasender Johannes: Die Hirschhausenisierung der Medizin

Darm mit Charme“ war der wohl größte Bucherfolg des letzten Jahres. Wahrscheinlich muss ich nichts über dieses Buch erzählen, weil es ohnehin schon jeder gelesen hat.

Das Buch ist locker geschrieben, witzig, frech und keineswegs akademisch. Trotzdem vermittelt es korrektes medizinisches Wissen.

Jetzt kommt „Herzrasen kann man nicht mähen“ auf den Markt.

Anderes Organ, selber Stil.

Der Ullstein Verlag scherzte auf der Frankfurter Buchmesse über den schwungvollen „Organhandel“:

Aber es geht nicht nur um die Inhalte.

Interessant ist, dass sowohl Giulia Enders als auch Johannes Hinrich von Borstel ihre ersten Erfolge bei science slams erzielt haben. Das sind Live-Wettbewerbe, bei denen Wissenschaftler 10 Minuten Zeit haben, ihr Fachgebiet und ihre Forschungsergebnisse einem Publikum vorzustellen, das danach über den Sieger der challenge entscheidet. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Inhalte den Zuschauern besonders gut gefallen, sondern welche performance am besten beim Publikum ankommt. Es ist nicht entscheidend, möglichst viel Klamauk zu machen, sondern einen Kontakt zu den Menschen herzustellen und sie für die eigene Sache zu begeistern.

Ich habe lange überlegt, wie ich das einschätzen soll.

Beide, Giulia Enders wie auch Johannes von Borstel, sind sympathische und charmante junge Kollegen. Beide haben Showtalent, man kann sie in jede Talkshow setzen, sie werden punkten. Der eine oder andere könnte darin ein Abgleiten der Medizin ins Showbusiness argwöhnen, eine Entwicklung hin zum Seichten, Infantilen, Unseriösen.

Ich sehe aber eine andere Tendenz. Für mich liegt hier eindeutig eine Hirschhausenisierung der Medizin vor.

Eckart von Hirschhausen hatte mit „Die Leber wächst mit ihren Aufgaben“ einen der größten und vielleicht auch eigenartigsten Erfolge auf dem Buchmarkt der letzten Jahre. Bei ihm wird das Zusammenfallen von Medizin und Komik am deutlichsten. Er füllt mit seinen Bühnenshows große Säle, seine Inhalte sind komödiantisch, aber medizinisch korrekt.

Für mich sind von Hirschhausen, Enders und von Borstel die Antwort auf Jahrzehnte mit „Halbgöttern in weiß“, auf Ärzte, die sich hinter unverständlichen Fachausdrücken im Elfenbeinturm verschanzt hatten, um möglichst viel Distanz zwischen sich und ihre Patienten zu bringen. Mit diesem Bild bin ich aufgewachsen und ich konnte noch nie viel damit anfangen.

Die Charmoffensive von Giulia Enders und die getanzten Herzrhythmusstörungen von Johannes von Borstel sind eine Absage an diese verzopfte Medizin und an Generationen von hochnäsigen Akademikern. Jung, frech, witzig, ungewöhnlich, öffentlichkeitswirksam, verständlich und medizinisch korrekt kommen diese (zukünftigen) Ärzte daher. Damit folgen sie von Hirschhausens Vorbild.

Wir Ärzte in den Kliniken und in den Praxen sollten davon lernen. Die moderne Medizin darf nicht in Distanz zum Patienten verharren, sie kann das gar nicht bei den vielfältigen Informationsmöglichkeiten, die sich uns allen heute bieten.

Wir müssen vielleicht nicht den AV-Block tanzen können, aber wenn wir den Kontakt zum eigentlichen Inhalt unseres Faches, nämlich die Behandlung von Menschen (nicht von Krankheiten!) nicht verlieren wollen, sollten wir auch als das auftreten, das wir hinter allen Kitteln, Titeln und Geräten sind: Menschen.

Peter Teuschel

10 Responses
  1. osterhasebiene langnase Antworten

    Dem oben gesagten kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen. Das Zeitalter der „Halbgötter in Weiß“ ist hoffentlich bald vorbei. Immer noch (leider): Überbehandlung, wohin das Auge reicht, andererseits ein „Aufgeben“ des Patienten, wenn er nicht ins Schema passt (also im Sinne der Medizin irreparabel ist), Entmündigung des Patienten, ein Nichtbeachten seiner Wünsche und Anliegen, der Patient als nicht denkensfähiges „Objekt“. Vielleicht ist dies für Ärzte die „Wiedergutmachung“ (Genugtuung) für eine extrem schwierige, entbehrungsreiche und harte Ausbildung, die (Abitur eingeschlossen) schon fast ein halbes Leben verschlingt. Die Patienten werden das aber dauerhaft nicht dulden, da bin ich mir sicher.

  2. Sehr schön geschrieben, Herr Teuschel, vor Allem der letzte Absatz ! Ich finde Sie können sich durchaus auf eine Stufe stellen mit den drei Autoren, also auf zum Poetry Slam !!!
    Ich freu`mich d`rauf.

  3. Generell ist es eine Eigenheit (oder Unart?) der deutschen Wissenschaft, dass wissenschaftliche Texte mit Fachausdrücken etc. gespickt werden (auch da, wo es nicht nötig wäre), um nicht etwa leicht verständlich zu sein, sondern möglichst gebildet zu klingen. Und der Nachwuchs schaut sich das natürlich von den „Vorbildern“ ab … und will nicht hintenan stehen, indem die eigenen Texte dann weniger hochgestochen klingen. Wer will neben Fachausdrucks-Lexika schon simpel wirken? Und irgendwann gewöhnt man sich dran und merkt gar nicht mehr, wie man vor sich hin schwurbelt …
    Von daher gebe ich dir völlig Recht: Toll, wenn Menschen komplizierte Sachverhalte auf Verständlichkeit ausgelegt aufbereiten – ob mit Comedy oder ohne.

  4. Diesem Beitrag kann ich nur zustimmen. Ich halte ihn inhaltlich auch für sehr wichtig und bedauere daher, dass man ihn nicht „teilen“ kann, um Ihren Appell an Ihre Halbgötter-Kollegen noch mehr zu verbreiten, aber auch den Appell an uns Patientinnen und Patienten, sie von deren auf Halbstufe herunter zu holen.

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