Aktuelles Gerichtsurteil zu Mobbing: Wichtige Fragen bleiben ungestellt

Heute machte eine Meldung die Runde durch die digitalen Medien.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat in einer Entscheidung vom 18.2.2014 einer beklagten Schule Recht gegeben, die zwei ihrer Schüler nach einer Prügelei mit einem Verweis bestraft hatte.

Der mich interessierende Sachverhalt dabei ist, dass die Eltern eines der Schüler gegen den Verweis des Gymnasiums Rechtsmittel eingelegt hatten mit der Begründung, ihr Sohn wäre schon länger Opfer von Mobbing gewesen und es wäre ungerecht, ihn als solches zu bestrafen, wenn er sich gegen Schikanen zur Wehr setze.

Konkret war es in diesem aktuellen Streit darum gegangen, dass einer der Schüler behauptet hatte, er habe in den Haaren des anderen Läuse gesehen. Die darauf hin einsetzende Schlägerei sei in ihrem Ablauf nicht mehr rekonstruierbar gewesen.

Trotz dieser Provokation, so das Gericht, hätte sich der solchermaßen beleidigte Schüler nicht zu Tätlichkeiten hinreißen lassen dürfen, da er dadurch „elementare Bildungs- und Erziehungsziele des Berliner Schulgesetzes missachtet“ habe. Sein Verhalten zeige keinen Versuch zur Verhinderung einer Eskalation.

Die Meldung wurde in den meisten Medien unter dem Stichwort „Mobbing“ präsentiert nach dem Motto „Mobbing-Opfer dürfen nicht zurückschlagen“ und so ähnlich.

Gerichtsurteile im Zusammenhang mit Mobbing-Vorwürfen sind aus meiner Sicht immer sehr spannend. Mobbing ist kein Straftatbestand und kann daher als solches juristisch nicht geahndet werden. Dadurch tun sich gerade Gerichte mit dem Mobbing-Komplex sehr schwer. Nun ging es hier nicht um strafrechtliche Belange, sondern um das Berliner Schulgesetz.

An diesem Fall lassen sich aber auch einige wichtige, immer wieder unterschätzte Tatsachen zum Thema Mobbing in der Schule erkennen.

Wie würden wir den Sachverhalt beurteilen, wenn dieser Streit zwischen zwei Schülern entbrannt wäre, die sich nicht in einer lange bestehenden Täter-Opfer-Beziehung befinden? Wenn also die Bemerkung über die Läuse als singulär aufgetretene Beleidigung zu der Schlägerei geführt hätte?

Meine Einschätzung wäre dann gewesen: Blöde Bemerkung, kann man echt bleiben lassen. Deswegen prügeln geht aber gar nicht. Wenn ich beleidigt werde, soll ich nicht gleich zuschlagen. Wenn der andere zuerst zugeschlagen hat, wirds schon schwieriger. Muss ich mit einem Verweis rechnen, weil ich mich nicht verkloppen lasse, sondern mich wehre, und zwar nicht nur mit Worten?

Immerhin reden wir dann über Themen, die so allgemein sind, dass sie gerade mal als Diskussionsgrundlagen für allgemein ethische Fragen dienen können.

Was aber ist, wenn die Behauptung der Eltern stimmt, dass ihr Sohn bereits seit langem gemobbt wurde?

Hier stoßen wir wieder auf meine mantraartig wiederholte Forderung, den Begriff Mobbing nur dann zu verwenden, wenn die Definition für Mobbing auch wirklich zutrifft. Wenn das außer Acht gelassen wird, bekommen wir eine Verwässerung dieses Terminus. Dann ist er nichts mehr wert, weil jeder etwas anderes darunter versteht.

Ich will gar nicht darauf hinaus, ob es einem Mobbing-Opfer mehr als einem in einem „banalen“ Streit Beleidigten zustehen würde, sich körperlich zur Wehr zu setzen. Das mündet in die selbe Diskussion über ethische Bewertung von Verhaltensweisen.

Nein, was mich interessieren würde:

Wenn wirklich schon geraume Zeit Mobbing-Handlungen vorlagen, wurden diese vom Schüler oder seinen Eltern bei der Schule gemeldet?

Wenn ja, wie hat die Schule reagiert?

Existiert an dieser Schule eine Anti-Mobbing-Strategie, also ein durchdiskutierter Plan, wie mit Mobbing umgegangen werden soll?

Falls es sich wirklich um die Kulmination eines Mobbing-Verlaufs gehandelt hat, der Mobber und das Opfer also in ihren Rollen bekannt waren und es dann zu dieser Schlägerei gekommen wäre, hätte man dann ebenfalls beiden Schülern einen Verweis gegeben? Oder hätte nicht dann die Schule erkennen müssen, dass ihre Bemühungen, das Mobbing effektiv zu beenden, erfolglos waren?

Die Konsequenz wäre dann nämlich, das eigene  Verhalten als Schule, das Krisenmanagement und den Umgang mit speziellen Konfliktsituationen, in diesem Fall mit Mobbing-Konstellationen, zu hinterfragen. Ein Verweis für Schüler würde in diesem Fall wenig helfen.

Über all diese Fragen lässt uns das Urteil im Ungewissen.

Sollte es sich hier tatsächlich um echtes Mobbing gehandelt haben, ist es ein höchst unbefriedigendes Ergebnis für das Opfer und seine Eltern.

In diesem Fall würde das vom Gericht zitierte „Berliner Schulgesetz“ mit seiner Forderung, die Eskalation von Konflikten zu verhindern, mit großer Wucht auf die Institution Schule zurückfallen. Dann wäre sie diejenige, die durch die Unterlassung, Mobbing zu ahnden und zu unterbinden, gegen ihre eigenen „elementaren Bildungs- und Erziehungsziele“ im Sinne eines Versuchs zur Verhinderung einer Eskalation verstoßen hätte.

Peter Teuschel

13 Responses
  1. Mir ist das an einer _Hoch_schule (Oe) passiert: das Mobbing ging mehr als 20 Jahre und die Uni hat nichts (wirklich) dagegen getan. Sie gewaehrte kein „audiatur et altera pars“, hat meine Hypothesen nicht ueberprueft (Verstoss gegen die Wissenschaft).

  2. Es dürfte die Regel sein, dass die Schulen gegenüber dem Mobbing „hilflos“ agieren. Mich würde mal eine echte Feldstudie interessieren, besonders an Schulen, die so genannte Deeskalationskurse durchgeführt haben und „geschult“ sind.
    Ich fürchte (nach dem was ich hier im Rhein-Main-Gebiet höre), dass die Situation eher verheerend ist, sich inzwischen echtes Mobbing („der muss weg“) als „Kunstform“ entwickelt und die Lehrer einfach nicht wissen, wie sie die Situation einschätzen und agieren sollen.
    Das Ergebnis ist: Durch erfolgreiches Ausprobieren werden Menschen herangezogen, die Mobbing als erfolgreiches Mittel zum Erreichen der eigenen Ziele erlernt haben. Schwere Kost.
    Und wie immer ist es der Fisch, der vom Kopf stinkt: Die Schulleitung muss klare Grenzen ziehen. Kein Schüler ist von den normalen „Strafen“ (zum Rektor gehen, Nachsitzen etc.) beeindruckt.
    Deeskaltionsgespräche sind „Psychogequatsche“, das lässt man über sich ergehen bzw. „vera…“ den Gesprächsleiter mit Scheinverständnis für das Opfer und lacht sich hinterher kaputt.
    (Kein Witz)
    Da helfen nur langfristige Maßnahmen, die nachgehalten werden, nicht nur punktuelle Gespräche und Klärungen.
    Die Lehrer müssten wirklich ausführlich geschult werden, über Hintergründe und praktisch anwendbare Verhaltensweisen. Und die Schulleitung muss den Lehrern den Rücken stärken, wenn sie eingreifen, vor allem den Eltern gegenüber. Ein schwieriges Feld, meines Erachtens noch viel komplizierter als im Arbeitsleben.

    • Volle Zustimmung!
      Nach meiner Meinung sind die „no blame approach“ Interventionen ungeeignet, um echtes Mobbing zu beenden. Es mag Fälle geben, wo das geklappt hat, zur Regel möchte ich es nicht erheben.
      Wie Sie richtig schreiben, ist die Schulleitung gefordert, klare und transparente Regeln im Umgang mit Mobbing zu installieren.
      Gegenüber dem Arbeitsplatz besteht ja in der Schule die Möglichkeit, direkt auf den oder die Mobber einzuwirken. Das sollte dann auch geschehen.
      Mobbing als „Kunstform“ kann sich nur dort entwickeln, wo weggeschaut wird.

      • Ganz aktuell in einem Fall mit körperlicher Gewalt und der Aussage eines Jungen: „Die provozier ich so lange, bis sie sich wehrt, dann kann ich sie zusammenschlagen, genau wie der …“
        Zitat des Rektors auf die Frage, ob man nicht eine mobbingerfahrene Mediatorin/ Konfliktcoach einsetzt: „Nein, das kostet ja Geld, wir haben eine speziell ausgebildete Lehrerin, die bildet jetzt die anderen Lehrer aus. Die Kinder können das selbst lösen.“
        Da läuft es mir eiskalt den Rücken runter.

        • „Die Kinder können das selbst lösen.“ Um diesen Satz sagen zu können, braucht es eine profunde Kenntnis der zu beurteilenden Situation. Hat der Direktor diese Kenntnis? Außerdem übernimmt er mit diesem Satz eine große Verantwortung. Daran muss man ihn erinnern, wenn es eine Fehleinschätzung war.
          Ich möchte ganz klar stellen: Eltern, die bei jedem Pipifax auf der Matte stehen, sind eine Geißel der Lehrer. Aber Eltern, die sich im Falle von Bullying mit Floskeln abspeisen lassen, sind eine Geißel ihrer Kinder.
          Was macht den Unterschied aus: Information, Wissen, Entschlossenheit. In dieser Reihenfolge. Und das sage ich jetzt nicht als Werbung für mein Buch, sondern weil es einfach so ist: Wer nichts weiß, muss alles glauben.
          Dass ein(e) speziell ausgebildete(r) Lehrer(in) mit der Sache betraut wird, ist in meinen Augen dann allerdings die beste Lösung, weil das auf eine Bullying-Konzept hinweist. Lösungen mit externen Coaches werden in der Schule die Ausnahme sein.

          • Die Mutter dieses Kindes kämpft wie eine Löwin. Aber sie läuft gegen Wände. Und genau das scheint mir an Schulen sehr oft der Fall zu sein. In der Berufswelt ist die Parallele die Geschäftsführung bzw. der Betriebsrat, die aus Hilflosigkeit oder Angst wirklich heftige Situationen klein reden und wegsehen / beschwichtigen. Das Opfer aus dem Weg zu haben ist ja auch die bequemere Lösung. Und ja, der Direktor kennt die ganze Geschichte.
            Ich bin sehr gespannt, wie die Lehrerin ausgebildet ist. Es steht zu befürchten, dass sich die Kinder, weil sie Erfolg hatten (das „Opfer“ wird jetzt anders beschult) ein neues Ziel suchen und weitermachen. Spätestens dann wird man wahrscheinlich reagieren. Zu spät für das erste Kind.
            Ich gebe Ihnen Recht. „Information, Wissen und Entschlossenheit“ sind tatsächlich der Schlüssel. In der Realität treffe ich leider immer wieder auf Halbwissen, das in die „Katastrophe“ (für den Betroffenen) führt.
            Es macht mich einfach wütend, dass viele Führungskräfte und Schlüsselpositionen (in Firmen und Schulen) über Mobbing sprechen, ohne zu wissen, wovon sie reden.
            Ihr Buch habe ich übrigens und habe es schon häufig
            empfohlen :-).

  3. Regeln sind wichtig, nicht wegschauen auch.
    Aber man muss auch aktiv werden (das passiert meistens nicht). Dazu wuerde schon ein(!!!) Mensch reichen, der zB sagt: „Ich will nicht, dass gemobbt wird“.

  4. es sollte auch viel mehr aufklärung darüber geben, welche fatalen folgen mobbing haben kann. es sind eben nicht immer nur „normale raufereien“ und kindern, die sich auswachsen…
    ich selbst war mobbing-opfer und leide heute noch nach über 20 jahren unter den folgen.

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