Trockener Alkoholiker? Die „Strafe“ des Versorgungsamtes

Vor zwei Wochen war eine Patientin bei mir. Ende 50, Beamtin. Sie kommt nicht oft, vielleicht zwei Mal im Jahr, denn eigentlich hat sie ihre Erkrankung gut im Griff.

Seit fünf Jahren trinkt sie keinen Tropfen Alkohol mehr.

Leicht war das nicht, nach mehreren fruchtlosen Versuchen, den übermäßigen Alkoholkonsum durch reine Willenskraft einzudämmen, half ihr letztlich nur eine mehrmonatige Entwöhnungstherapie.

An sich kann sie also stolz auf sich sein, die Rückfallquote bei Alkoholkrankheit ist auch nach erfolgreicher Therapie hoch.

Aber jetzt war sie besorgt. Das Versorgungsamt hatte ihren Grad der Behinderung von 50 auf 30 reduziert. Dieser GdB, das sind die berühmten „Prozente“, die die Patienten beim Versorgungsamt beantragen. An sich ist es keine Prozentzahl, sondern eine absolute Angabe. Der höchste Grad an Behinderung ist 100.

Bei einer Alkoholkrankheit richtet sich der Grad der Behinderung nach bestimmten Kriterien. Das sind einerseits bestehende Organschäden wie Leberzirrhose, Polyneuropathie, hirnorganische Ausfälle, andererseits aber auch das Ausmaß der Abhängigkeit. Typischerweise besteht bei einer Alkoholkrankheit ein Kontrollverlust, so dass die aufgenommene Menge Alkohol nicht mehr kontrolliert werden kann. Dies bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Willensfreiheit.

© Kim Schneider – Fotolia.com

Wenn diese Umstände gegeben sind, also ein Kontrollverlust vorliegt, beträgt der Grad der Behinderung je nach Ausmaß des Leidens zwischen 50 und 100.

Führt der Patient eine Entwöhnungsbehandlung durch, wird zunächst zwei Jahre abgewartet, eine so genannte „Heilungsbewährung“. In dieser Zeit wird der GdB dann auf 30 festgelegt, falls nicht Organschäden bestehen, die für sich genommen einen höheren Grad der Behinderung bedingen.

So verhielt es sich auch bei meiner Patientin. Sie war „trocken“ geblieben, deshalb wurde der GdB auf 30 reduziert.

Als Beamtin durchkreuzte diese Reduktion allerdings ihre Pläne, da sie den vorgezogenen Altersruhestand anvisiert hatte und für diesen eben einen Grad der Behinderung von mindestens 50 braucht.

Nun ist es sicher für alle Patienten erfreulich, wenn ihr Leiden sich bessert oder gar ausheilt. Bei Alkoholikern trifft das Wort „Ausheilen“ nur leider nicht zu. Es ist eine täglich aufzubietende Disziplin nötig, eine ständige Bewusstheit, alkoholkrank zu sein und das berühmte „erste Glas“ zu meiden. Wer das erfolgreich hinbekommt, der kann sich auf die eigene Schulter klopfen.
Denn bisher geht man davon aus, dass sich eines der Kernprobleme beim Alkoholismus, nämlich der bereits erwähnte Kontrollverlust, niemals bessert. Das bedeutet, dass auch nach einer abstinenten Phase von mehreren Jahren der erste Schluck Bier oder Wein sofort wieder zu einer dann nicht mehr kontrollierbaren Aufnahme von Alkohol führt.

Seltsamerweise trägt die GdB-Regelung dem nicht Rechnung. Wenn der Kontrollverlust eines der Kriterien ist, der zu einem GdB von 50 bis 100 führt und dieser Kontrollverlust den Patienten ein Leben lang verfolgt, warum wird der Grad der Behinderung bei Abstinenz dann auf 30 reduziert?

Letztlich geht es dann nur darum, ob der Patient trinkt oder nicht. Trinkt er (trotz Kontrollverlust) nicht mehr, weil er jeglichen Kontakt zu Alkohol meidet, kommt es im Erleben des Patienten einer Bestrafung gleich, dass ihm das Versorgungsamt die „Prozente“kürzt.

Irgendwie schräg ist das schon.

Meine Patientin, eine knorrige Dame, hat es so formuliert:

„Also ich schreib die jetzt an, dass ich ab morgen wieder anfange zu saufen. Dann müsste ich ja eigentlich wieder meine 50 Prozent kriegen, oder?“

Peter Teuschel

Bild: © Kim Schneider – Fotolia.com

13 Responses
  1. Auch wenn es sich jetzt total böse und gemein anhört – aber steht der Grad der Behinderung bei Alkoholproblemen wirklich in Relation? Ich bin chronisch erkrankt, muss jeden Tag Medikamente nehmen damit ich am sozialen Leben teilhaben kann, muss öfters mal operiert werden und kann vielleicht keine Kinder kriegen – und bekomme nix an „Prozenten“? Es tut mir leid, aber da läuft im System was falsch. Klar brauchen Alkoholabhängige Hilfe, aber ich denke, ein GdB von 30 oder gar 50 ist der falsche Weg.

    • Im System Versorgungsamt läuft sicher einiges falsch.

      Das mit den Prozenten bei Alkoholabhängigkeit versteht man ein bisschen besser, wenn man wie ich ein paar Jahre im Suchtbereich gearbeitet hat. Da werden einem die Behinderung durch die Krankheit und der Respekt vor der Leistung eines „trockenen“ Lebens deutlicher und nachvollziehbarer. Insofern kann ich die GdB-Einstufung da schon nachvollziehen.

      Das Problem ist aber, dass sich über die Jahre hinweg die Hürden des Amtes immer mehr erhöht haben, ohne dass sich die Kriterien geändert hätten.

      Wenn Sie vor 10 Jahren einen Antrag gestellt haben und ihr Arzt eine Einschätzung von GdB 50 abgegeben hat, konnte es gut sein, dass das reichte.

      Heute bekommen Patienten, die kränker sind, gerade mal so 20 bis 30.

      Natürlich kann ich es nicht beweisen, aber ich denke, dass die Versorgungsämter angewiesen sind, mit den Prozenten zu geizen.

      Und so geben viele, die an sich einen Anspruch hätten, genervt und frustriert auf. So nach dem Motto „Hat ja eh keinen Zweck“.

      Dann ist das Kalkül des Amtes aufgegangen. Weniger Prozente, weniger Vergünstigungen und vor allem weniger Frührenten aus gesundheitlichen Gründen. Wieder was gespart auf dem Rücken der Versicherten. Klingt vielleicht zynisch, ist aber meine tägliche Erfahrung.

      Was kann man tun:

      1. Sie brauchen einen Arzt (Hausarzt oder wie in meinem Fach Psychiater), der bereit ist, den langen „Marsch durch die Prozente“ mitzugehen und beharrlich Atteste zu schreiben, Anfragen zu beantworten und der nicht seinerseits die Nerven verliert und aufgibt.

      2. Sie selbst brauchen Geduld und Zähigkeit. Antrag um Antrag stellen, bei Ablehnung Widerspruch einlegen. Wird der abgelehnt, empfehle ich derzeit nicht den Gang zum Sozialgericht, sondern das Stellen eines neuen Antrages nach 3 Monaten.

      Leider ist mein momentanes Fazit: Von den Patienten, die „wirklich was haben“, kriegen nicht die Kränksten die Prozente, sondern, die, die nicht aufgeben.

      Peter Teuschel

      • Ich arbeite beim Versorgungsamt und kann Ihnen sagen, dass es zumindest in meinem Bundesland keinerlei Nachricht an die Mitarbeiter gab, mit dem GdB zu geizen. Vor allem entscheidet kein Sachbearbeiter über den Grad sondern Ärzte. Diese werden über einiges mehr an Kompetenz verfügen als ihnen hier zugeschrieben wird.

        • Das glaube ich Ihnen, dass es offiziell keine derartige Anordnung für Sie gab. Wissen Sie, ob das auch für die über den GdB entscheidenden Ärzte gilt? Denn die über die Jahre hinweg erfolgte Änderung bezüglich der Bewertung von Leistungseinbußen ist augenfällig.

    • Es gibt viele schwere erkrankungen,jede einzelne ist schon schlimm genug.Wenn man aber die tragweite der sucht ansich begreift und die kosten,dann ist nach 41 Arbeitsjahren das Streitigmachen eines grades der behinderung oder der berufsunfaehigkeit nicht mehr nachzuvollziehen

  2. Wie ist es denn ausgegangen mit der Beamtin? Bin nämlich gerade in einem ähnlichen Fall um ein Attest zum Widerspruch gebeten worden.

    • Der GdB wurde vermindert auf 30. ich denke, dass Appelle an den gesunden Menschenverstand nichts helfen. Den Widerspruch sollte man, wenn möglich und vorhanden, mit anderen Behinderungen als der Alkoholabhängigkeit begründen.

  3. Thomas Rüß Antworten

    Hallo Peter,da ich auch ein zur Zeit Trockener Alkoholiker bin der nach einen Erneuten Rückfall im Februar 2015 nun nach einer Abmahnung von 2012 mit hinweis auf Kündigung im Wiederholungsfall auch noch meinen Arbeitsplatz mit einer Ordentlichen Kündigung zum Ende des Jahres nach 30 Arbeitsjahren Verlieren soll. Ich Versuche alles um diese Krankheit in den Griff zu bekommen ich will nicht Aufgeben und bin auch schon wieder in meiner Beratungsstelle, ein Therapie Antrag ist Gestellt und ich Besuche Regelmäßig meine Gruppen.Trocken bin ich seit dem 31.03.2015 wegen der Kündigung bin ich bei einer Anwältin für Arbeitsschutz und Sie fragte mich ob ich eine Behinderung habe und das es besser wäre gegen die Kündigung Anzugehen wenn man Etwas Schriftlich hat in Sachen GdB eine Kündigungsschutzklage machen Wir auf jeden Fall. Da ich keine Rechtsschutzversicherung habe muss ich die Kosten selber Zahlen und das mache ich auch weil es für etwas gutes ist.Wie ich vom Versorgungsamt Eingestuft werde weis ich nicht aber ich weis das ich nicht mehr in eine Geschlossene Psychiatrie möchte ob nun Freiwillig oder von der Polizei Angeordnet weil ich wieder Versucht habe mir das Leben zu nehmen als ich Betrunken war. Morgen gehe ich nun zum Versorgungsamt im Gepäck habe ich Schweigepflichts Entbindungen für alle die etwas über mich sagen können wie Ärzte und Therapeuten auch für das Klinikum Nord Ochsenzoll und die dortigen Psychiater da ich dort des Öfteren war in den Vergangenen fünfzehn Jahren und Sie meine Krankheitsverlauf gut Dokumentieren können. Lg.Thomas aus Hamburg

    • Lieber Thomas,

      das klingt recht dramatisch. Ich halte Ihnen die Daumen, dass sich diese Geschichten zu Ihrer Zufriedenheit erledigen lassen. Wenn jemand akute Suizidgedanken hat, ist er er sicher in der Klinik am besten aufgehoben. Nachdem Sie aktuell trocken sind und keine akute Suizidgefahr besteht, gibt es aus meiner Sicht keinen Grund für eine Einweisung durch die Polizei.

  4. Ich finde nur das sind Einsparungen an geldern wenn man einmal Alkoholiker ist und ärztlich erwiesen dann ist man das ein ganzes Leben lang diese Gutachter brauchen selber Gutachter weil diese keine Ahnung haben was es heisst Alkoholiker zu sein ich finde es zu tiefst enttäuschend das dieses Amt wo man den Antrag stellt sich nicht bewusst ist was die dort begutachten

  5. Ich bin ein wenig ambivalent, was ich von der Sache halten soll. Auf der einen Seite ist es nachvollziehbar, dass die Frau sich subjektiv vom Versorgungsamt bestraft fühlt. Andererseits finde ich es einleuchtend, dass jemand, der „trocken“ wenn auch immer latent rückfallgefährdet ist, als gesünder einzustufen ist, als jemand, der suchtkrank und „aktiv trinkend“ (oder wie auch immer man das nennen will) ist. Insofern finde ich es vertretbar, dass das Versorgungsamt die Besserung des gesundheitlichen Zustandes der Frau anerkennt, indem sie den Grad der Behinderung/Einschränkung runterstuft (das ist nicht zynisch oder böse gemeint).

    Ob die generelle Einstufungspraxis des Versorgungsamtes fair ist, vermag ich nicht zu beurteilen und möchte meinen Beitrag auch nicht als Billigung der generellen Handhabung verstanden wissen. Nur in dem Einzelfall. den sie anhand der Frau geschildert haben, finde ich im Handeln des Versorgungsamtes nichts Kritikwürdiges. Man bekommt die Prozente schließlich für Krankheit(sfortschreiten), nicht für Gesundheits(fortschritte). Je gesünder man ist, desto eher muss man bis zur Altershöchstgrenze arbeiten, wenn man ohne Abschläge in den Ruhestand gehen möchte. Man wird nicht für Gesundheit „belohnt“ vom Versorgungsamt, indem man mit besserer Gesundheit früher in den Ruhestand gehen kann. Das müsste der Frau eigentlich auch einleuchten – sie ist ja objektiv betrachtet in einem besseren Gesundheitszustand, als vorher. Daher bekommt sie aktuell auch weniger Prozente. … Wenn es ihr die Sache wert ist, für mehr Prozente wieder mit dem Trinken anzufangen, um ohne Abschläge in den Ruhestand zu gehen, ist ihr dies natürlich freigestellt (auch wenn sie das ja kaum ernst gemeint haben dürfte). Alternativ könnte sie auch mit Abschlägen in den vorgezogenen Ruhestand gehen, wenn sie ihren Gesundheitszustand einerseits nicht mutwillig wieder verschlechtern und andererseits gleichwohl früher in Rente gehen möchte.

  6. habe auch das Problem mit den % 2024 wird erneut geprüft ob ich die % noch bekomme das bedeutet also für mich gezielt Ende 2023 wieder zu trinken vom Arzt bestätigen lassen dann durch guten Willen man weiss ja warum man es gemacht hat wieder aufhören zu trinken, ich hoffe das es klappt, habe auch sonst noch einige körperliche Beschwerden aber die werden so nicht anerkannt

  7. Hallo an die Schreiber,
    ich bin seit über sieben Jahren (durch Entzug und Therapie) trockener Alkoholiker. Ich denke das bei Ihnen und beim Amt folgendes Problem vorliegt, nämlich der eine ist immer kränker als der Andere. Die Behinderung des trockenen Alkoholiker setzt sich nämlich anders zusammen als bei einem aktiven Alkoholiker. Also zwei unterschiedliche Erkrankungen und Behinderung.

    MfG.
    delube

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