Spieglein, Spieglein im Gehirn

Vor 8 Jahren habe ich einen Beitrag über einen Fall von Massenhysterie geschrieben. Nachdem ich seit Monaten über das Zustandekommen aktueller Verschwörungsmythen und insbesondere die Abgrenzung gegenüber Wahninhalten rätsle, ist mir heute dieser Artikel wieder eingefallen.

Hintergrund ist der Kontakt zu langjährig in meiner Praxis behandelten Patienten, die bisher keinerlei Anzeichen zeigten, an unkorrigierbaren inhaltlichen Denkstörungen zu leiden und jetzt ins Verschwörungsmilieu abzudriften drohen oder schon abgedriftet sind.

Diese Menschen stellen nur einen winzigen Bruchteil unserer Patienten dar, aber das Phänomen an sich ist für mich doch erstaunlich. Es handelt sich ja nicht um „persönliche“ Wahninhalte, die so vielfältig sind wie die Menschen, die an ihnen leiden. Nein, alle Verschwörungsmystiker teilen ja eine gemeinsame „Wolke“ aus teils diffusen, teils konkreten Inhalten, an die sie unverrückbar glauben. Es erinnert also mehr an Sektenphänomene als an Wahnformen bei Psychosen.

Und an dieser Stelle fiel mir mein alter Artikel wieder ein.

Die Rede ist dabei von den Spiegelneuronen, jene bei Primaten entdeckten und bei Menschen postulierten Nervenzellen im Gehirn, die dafür verantwortlich sein sollen, dass man sich in andere hineinfühlen kann. Auch das Phänomen, dass Gähnen ansteckend ist, soll auf Spiegelneurone zurückzuführen sein. Es geht ganz grob darum, dass eine beobachtete Handlung beim Gegenüber eine Aktivierung bestimmter Neurone im eigenen Gehirn auslöst – nämlich derjenigen Zellen, die für diese Handlung „zuständig“ sind. Ich sehe also jemanden gähnen und meine Spiegelneurone funken „GÄHN“. Und schon gähne ich.

In meinem alten Artikel wurde diskutiert, ob die „Ansteckung“ mehrerer Menschen mit psychiatrisch-neurologischen Symptomen nicht auf Spiegelneurone zurückzuführen sei.

An „Massenhysterie“ muss ich auch heute oft denken, wenn ich mir so manche Mitschnitte über Corona-Leugner anschaue, die in nicht geringer Zahl auf Youtube kursieren. Ist auch das ein Effekt der sagenumwobenen Spiegelneurone? Da betrete ich natürlich dünnes Eis, denn bis jetzt gibt es zwar Nachweise, dass sie existieren, aber so richtig viel weiß man nicht über sie. Aber immerhin sind sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, so dass ich mir dieses Gedankenspiel mit gutem Gewissen erlaube.

Und wenn ich dann noch einen Schritt weiter denke und berücksichtige, dass Spiegelneurone für Mitgefühl und Empathie verantwortlich sein sollen, frage ich mich, ob nicht besonders empfindsame und sensitive Menschen in hohem Maße gefährdet sind, ins Verschwörungslager zu wechseln. Denn wenn man sieht, wie medial präsent Verschwörungsmythen mittlerweile sind, kann man durchaus einen „Ansteckungseffekt“ postulieren. Hinzu kommt natürlich das Bedürfnis, in Krisenzeiten in einer peer group geborgen zu sein, mit der man sich identifizieren kann und die einfache Lösungen für komplexe Probleme propagiert. Aber über diesen psychologischen Effekt will ich mich an dieser Stelle nicht auslassen.

Die Spiegelung beobachteter und mit hoher Emotionalität vorgetragener Einstellungen und Verhaltensweisen anderer durch Neurone in unseren eigenen Gehirnen und die dadurch erfolgende Induktion ähnlicher Denkinhalte bei uns ist für mich aber ein faszinierender Gedanke.

Peter Teuschel

5 Responses
  1. An der Spiegeltheorie ist gewiss was dran. Normalerweise kann ein Erwachsener entscheiden wie weit er entgegenkommen mag – vom Gähnen mal abgesehen. Er kann Differenzen und Überinstimmungen ausmachen und sich so positionieren – als Individuum. Resonanz ist vielleicht ein anderer, esoterischerer Begriff für geistige Ansteckung. Niemand ist frei davon. Aber die Welle sollte das Eigene nicht völlig vereinnahmen.
    Stark ist bestimmt der Wunsch nach Zugehörigkeit ohne große Eigenleistung zu erbringen, also ein wenig so wie kleine Kinder gerne alles glauben wollen, was Erwachsene ihnen vorsagen (selbst wenn sie wissen, dass es nicht stimmen kann).
    Für mich ist das im Erwachsenenalter ein entwicklungspsychologisches Defizit.
    In jedem Fall ist solche Rattenfängerei nicht mit den Spiegelneuronen biologisch entschuldbar. Der Schaden folgt dem Leichtgläubigen auf den Fuss – vielleicht nicht sofort. Massenphänomenen und Sekten zu widerstehen erfordert Willenskraft, die oft aus der mehr oder weniger bitteren Lebens-Erfahrung stammt, dass der einfache und schön-bequeme Weg für das Individuum oft in einer Sackgasse endet. Deshalb denke ich, dass solche übergroße „Empathie“ eine große Falle auf dem eigenen Weg ist.

  2. Noch etwas: die Gesellschaft tut so, als gaebe es immer mehr Freiheit und das Internet beschleunigt das Leben immer mehr. Corona stoert da.

  3. Corona ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer sich viele Menschen in unserer Gesellschaft mit angemessenem Umgang von was-auch-immer (Einschränkungen jeder Art) tun.
    COVID 19 ist nichts weiter als ein -nicht ungefährliches- Virus, das vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist und gegen das der Mensch noch keine Immunantwort gelernt hat.
    Insgesamt ist die Lage beherrschbar. Viel bedrohlicher finde ich die Botschaft, welche mitgeliefert wird, dass auf Menschen noch weit gefährlicher Viren und Bakterien warten könnten, wenn sie nicht aufhören Naturräume von wilden Tieren in großem Ausmaß zu zerstören. Davon ist aber seltsamerweise kaum die Rede.
    Es lässt sich beobachten: entweder wird auf Corona emotional überreagiert (was in Verleugnung und Aggression umschlägt) oder die Pandemie wird überrationalisiert (Kompensation? – wobei das für Wissenschaftler natürlich angemessen ist). Der Mittelweg ist irgenwie verschüttet (auch die Wissenschaft muss nochmal auf die reale Machbarkeit heruntergebrochen werden) Es ist ein weiteres Risiko im Leben hinzugekommen – mehr nicht – bis jetzt!
    Und es führt unweigerlich wieder zur Klimadebatte und der radikalen (von Grund auf) Notwendigkeit einer Änderung unserer zivilisatorischen Gewohnheiten zurück. Darin, glaube ich, besteht die größte Angst der Menschen hierzulande. Alle Reaktionen lassen sich irgendwie auf diese Zukunfts-Angst zurückführen. Das Märchen vom ewigen Wachstum und Wohlstand bröckelt massiv, man will es aber wie die kleinen Kinder weiterhin hartnäckig glauben.

  4. Puh, wenn ich den verlinkten youtube-Beitrag sehe, frag ich mich: huch, sind meine Spiegelneurone anders gepolt? Es gibt doch wohl noch Intelligenz und Abgrenzungsvermögen und kritische Hinterfragung, wenn es um Verschwörungstheorien und solche krassen der Realität entfernten Meinungen gibt, oder? Das differenzierte Denkvermögen müssten doch gerade auch empathisch sensible Menschen haben? Vielleicht melden sich eher auch in Krisenzeiten verstärkt die diversen entrückten Menschen, die egal ob Krise oder nicht, sowieso Denkmuster besitzen, die der Realität entfernt sind.

  5. Ha, besonders empfindsam und sensitiv zu sein, ist eben häufig ein Nachteil. … Gilt auch bzgl. Empathie, bezogen auf das Mitgefühl/Mitfühlen, nicht auf das rationale Empathievermögen.

    Interessante Hypothese. Mich persönlich nervt es ja eher, wenn Botschaften sehr emotional vorgetragen werden, finde ich eher hysterisch-abstoßend, aber so wäre das für Gurus etc. ein strategischer Vorteil, um ihre Schäfchen einzusammeln.

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