Psycho München 13: Das Ende der Welt

Der Münchner hat ja ein feines Gespür für das Apokalyptische. Vielleicht nicht ganz so sehr wie der Wiener, was daran liegen könnte, dass in Wien das ganze Jahr die Welt untergeht und in München nur zum 31.12. Aber immerhin.

Und jetzt ist es bald soweit.

Wieder einmal.

Den ganzen bisherigen Dezember haben wir damit verbracht, uns mit Freunden zu treffen. „Wir müssen das dieses Jahr noch hinkriegen“, lautet die Formel, mit der wir ausdrücken, dass nach dem 31.12. keine Gelegenheit mehr für ein Treffen sein wird. Weil da ja die Welt untergeht.

„Ich muss auf jeden Fall die nächsten Tage noch einmal in die Stadt“ ist das Eingeständnis, dass es vielleicht noch gerade so ein Morgen, aber ab 1.1. sicher keine Stadt mehr geben wird.

Da alle Münchner so denken, ist man „in der Stadt“ zur Zeit in guter, zumindest aber in zahlreicher Gesellschaft.

(Für Nicht-Münchner: „In der Stadt“ ist ein eng begrenztes Areal in der Münchner City und „in die Stadt gehen“ bedeutet, sich in eben dieses eng (sehr eng!) begrenzte Areal zu begeben, will sagen zu zwängen, so man Dezember schreibt.)

Auch in der Praxis ist es zu spüren. Das kommende Weltende verleitet viele Menschen zu Hamsteraktionen. Schnell noch ein Rezept über fünf Hunderterpackungen des eigenen Medikaments abholen. Bis zum Weltende ist es zwar kurz, aber doch unendlich lange, und jenseits der Apokalypse ist man froh, wenn man mit dem Wichtigsten ausgerüstet ist.

Jetzt ist auch die Zeit, bisher nie Ausgesprochenes einmal zu verbalisieren. Alte Konflikte, jahrzehntelange Entwicklungen möchten angesprochen, durchgearbeitet und gelöst werden. Und zwar schnell. Schließlich will keiner mit ungelösten Problemen dastehen. Am Weltende.

Aber auch wir vom Praxisteam sind uns bewusst, wie ernst die Lage ist. Wir werden uns nicht mehr sehen in diesem Jahr. Nie mehr! Im gesamten Rest dieses Jahres! Wir nehmen Abschied. Gerührt, aber gefasst. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, aber jetzt müssen wir stark sein. Noch ein letzter Blick auf den Terminkalender: Nein, kein Termin mehr frei bis Ende Januar. Aber das ist weit weg, eher so im nächsten Leben, jedenfalls jenseits der Apokalypse zum 31.12.

Das Ende der Welt in München

Das Ende der Welt in München

Draußen vor der Praxis, auf den Straßen und Plätzen, ist der Verkehr zusammengebrochen. Alle fahren in die Stadt. Mit dem Auto. Fußgängerampeln haben ihre Funktion verloren. Man kann die Straße überqueren, wo man will, schiebt sich zwischen eingekeilten Fahrzeugen hindurch in die Menschenmenge auf der anderen Straßenseite. Ein überwältigendes Wir-Gefühl.

Ich breite die Arme aus und lasse los. Überantworte mich dem nicht mehr versiegenden Strom der Menge. Weg und Ziel werden eins. Am Weltende erfüllt sich das Schicksal des Einzelnen im Ozean der kollektiven Münchner Gemeinschaftsseele.

Kurz vor der psychischen Kernschmelze biege ich noch schnell ab zum Rewe. Es wäre fatal, wenn nach der Apokalypse der Kaffee alle wäre.

 

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
(Jakob von Hoddis: Weltende. 1911)

Peter Teuschel

5 Responses
  1. osterhasebiene langnase Antworten

    Sehr sehr schön! Wünsche Ihnen einen guten Jahresausklang und frohes Wiedersehen im neuen Jahr. Liebe Grüße. PS: mit dem Kaffee ging´s mir genauso. Ist überlebenswichtig.

  2. Ein Beitrag, der sehr nachdenklich stimmt.

    Neben der apokalyptischen Schwere, die er aufs Trefflichste beschreibt, leuchtet aber auch Hoffnung aus ihm.
    Denn: Kann allen Ernstes das Ende drohen, nun, da der Doc sich mit Kaffeevorräten eingedeckt hat (was ja über das Ende hinausweist und es damit in Frage stellt) und ich gestern noch zu den Glücklichen gehörte (mit einem der wenigen präapokalyptischen Praxis-Termine gesegnet), den Schwelbrand meiner Krisenherde noch schnell löschen zu können, um heute schon wieder bei lebensfrohen 15 Grad durch die Münchner Isarauen zu flanieren?
    Das sind doch alles keine Vorboten der Apokalypse!

    Als ich den WordPress-Reader gerade erleichtert wieder schließen wollte, fiel es mir dann aber wie Schuppen von den Augen.
    Es war Teil 13 der beliebten Rubrik „Psycho  München“. Au weia. Wie konnte ich das zunächst übersehen? Das kann kein Zufall sein.
    Die 13 war schon immer mit Vorsicht zu genießen und verhieß im Weltenlauf zumeist nicht Gutes.

    In Offenbarung 13 heißt es nämlich: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht.“

    Wie furchteinflößend! Klingt ja schlimmer als die apokalyptischen Reiter!
     
    Mein Blick richtet sich bang auf den reißenden Strom.
    Erfreulicherweise sehe ich just in diesem Augenblick nur meinen Dackel gut gelaunt der Isar entsteigen, in der er sich wegen der frühlingshaften Witterung ein erfrischendes Bad gegönnt hat.

    Hm. Weit und breit kein Ungeheuer.
    Vielleicht nur eine trügerische Szenerie, vielleicht aber auch ein Zeichen, dass das Weltenende doch noch nicht in Sicht ist? In 8 Tagen und ein paar Stunden sind wir alle schlauer, dann kommt die Auflösung. Bis dahin heißt es: Augen auf (oder wie der Münchner sagt: Obacht!).

    Sicherheitshalber gehe ich jetzt auch noch Kaffee kaufen, um mich wachzuhalten und alle weiteren Zeichen für was auch immer mitzubekommen.

    Hoffen wir allesamt das Beste. Psycho München Nr. 14 ist bestimmt schon in der Schlussredaktion?! Ja?

    Frohe Weihnachten für Sie und alle Freunde der schrägen Lage – und mal ganz optimistisch: bis Januar!

    Rosalita

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