Es war einmal …

Eine meiner Patientinnen erzählte mir heute, dass sie in einem Altenheim vorliest.

Bei ihr geht es mit großen Schritten in Richtung Frühberentung. Sie ist seit Jahren in meiner Behandlung und seit einigen Monaten ist uns beiden klar, dass es nichts mehr wird mit der nächsten Wiedereingliederung, der nächsten Überforderung, der nächsten Enttäuschung. In so einer Situation fragt sich mancher, was er noch anfangen kann mit der Restenergie und dem Gefühl, noch etwas „Sinnvolles leisten“ zu wollen.

So landete sie schließlich im Altenheim, um vorzulesen.

Ich fragte sie, was die alten Herrschaften denn so hören wollen und zunächst antwortete sie etwas ausweichend: „Na, was die halt so in ihrem Schrank stehen haben.“

Als ich aber weiter nachfragte, was denn so am beliebtesten sei, bekam ich ein Antwort, mit der ich nicht gerechnet hatte, die mich aber sehr nachdenklich machte.

„Märchen“, sagte meine Patientin, “ die meisten wollen, dass ich ihnen Märchen vorlese. „Hans im Glück“ oder „Schneewittchen“, was auch immer. Eine von den Damen vergisst von mal zu mal, wer ich bin, wenn ich zum Vorlesen komme, aber die Märchen kann sie auswendig.“

Märchen im Altenheim, das hat mich heute seltsam berührt. Ich erinnerte mich an die erste Märchen-Schallplatte, die uns Kindern damals „das Christkind“ gebracht hatte und die Faszination, die von ihr ausging. Danach habe ich alle Märchenbücher, derer ich habhaft werden konnte, regelrecht verschlungen. Sei es aus dem Bücherbus der Städtischen Bibliotheken oder aus der großen Bücherei meines Gymnasiums, aus der man sich immer drei Bücher pro Monat ausleihen durfte. Dort gab es Märchen aus aller Welt und bei allen hatte ich das Gefühl, als würde ich durch sie etwas allgemein Gültiges erfahren, das ich niemals mehr vergessen dürfte. Für mich waren die Märchenbücher meine ganz persönliche Bibel und diesen rätselhaften Geschichten habe ich immer mehr vertraut als den meisten anderen Botschaften der Schule.

Später dann war das erste Buch, das ich geschrieben habe, auch ein Märchen. Auch wenn es nur scheinbar eins ist, aber auch das gehört ja zu der Doppelbödigkeit, die man erst als Erwachsener in diesen alten Geschichten erkennt.

Ich habe lange kein Märchen mehr gelesen, aber jetzt frage ich mich, was wohl die alten Herrschaften empfinden, wenn sie „Hänsel und Gretel“ oder „Frau Holle“ im Altenheim vorgelesen bekommen.

So weit entfernt von ihren Kindertagen. Aber in einer Zeit, da ein Kreis sich schließt.

 

Peter Teuschel

4 Responses
  1. Wunderschön. So geht´s manchmal, der eine ist ständig überfordert, ein anderer fühlt sich stets unterfordert – in der Arbeitswelt. Märchen wirken auf alle Menschen ausgleichend und beruhigend. Ich glaube, darin liegt ihre große Kraft. Sie sind eine Quelle schier unendlicher Interpretationsmöglichkeiten, das ist der intellektuelle Anspruch. Ich frage mich oft, was für Typen die Brüder Grimm wohl waren, weil sie einfach alles alles wussten.

  2. Ist es wirklich sinnvoll, wenn die Frau nach so viel Leid wieder etwas macht, was nicht gerade froh stimmt? Im Altenheim moechte ich zB Udo Juergens „Mit 66 Jahren“ verwirklichen.

    • Hallo, mein therapeutischer Ansatz wäre hier auch anders: positiver. In der klassischen Psychotherapie scheint das aber häufig so zu laufen, weshalb ich auch skeptisch bin. Andererseits spiegelt die selbstgewählte Tätigkeit das Grundgefühl der Klientin. Ob das für sie gut oder schlecht ist – wer weiß es und darf es beurteilen?

  3. Danke. Ich wollte es nur zur Diskussion stellen. Es gibt Unterschiede zwischen den Menschen, aber manchmal aendert auch ein und dieselbe Person ihre Meinung. Der grosse Psychoanalytiker Igor Caruso sagte einmal: „Die Menschen schaetzen es nicht, wenn sie etwas kostenlos bekommen.“ Ein Bekannter folgte diesem Rat und seither geht es ihm besser.

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