Der Fall Hingst. Schaden für die Blogger-Szene und Tummelplatz wilder Psycho-Spekulationen

Lug und Trug

In den letzten Tagen war es eines der Hauptthemen in vielen Medien: Marie Sophie Hingst, preisgekrönter („Goldene Bloggerin 2017“) und wohlgelittener Star der Szene, ist aufgeflogen. Ein großer Teil der von ihr veröffentlichten Geschichten ist schlicht erfunden, so etwa ihr Engagement in Indien, wo sie bereits mit 19 Jahren eine Klinik in den Slums gegründet und jungen Männern Sexualkunde erteilt haben will.

Nette Story, aber frei erfunden.

Genau wie ihre jüdische Familiengeschichte, die sie sich ebenso aus den Fingern gesogen hat wie die angeblichen 22 jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in ihrer Familie, deren Bilder sie an die Yad Vashem-Gedenkstätte geschickt hatte. Alles Fake, alles mit großem Aufwand betriebene Lügenstories.

Wer weiß, was sie sich noch alles ausgedacht hätte, wenn sie nicht durch Recherchen des SPIEGEL und der ZEIT entlarvt worden wäre.

Dieser Fall von Betrug und Lügen ist in meinen Augen in Deutschland beispiellos in der (doch noch jungen) Blogger-Landschaft. Bei den Journalisten hatte Claas Relotius für ein ähnliches Aha-Erlebnis gesorgt. Immerhin hatte der es geschafft, in einem Umfeld aus redaktioneller Kontrolle (?) seine Fake News zu produzieren.

Im weitgehend unregulierten Blogger-Milieu wiegt eine derartige Täuschung der Leser und allgemein des Publikums fast noch schwerer, ist doch (um mal mit der CDU zu sprechen) „unsere Währung das Vertrauen“.

Dieses Vertrauen, diese Beziehung zum Leser wurde durch Frau Hingst mit Füßen getreten, das wird Auswirkungen auf alle Blogger haben.

Die einzige Möglichkeit, die wir haben, wir, die wir nicht betrügen und täuschen, ist die klare Distanzierung von derlei Machenschaften. Mit ihren nicht an der Wahrheit, sondern an ganz eigenen, subjektiven Bedürfnissen orientierten Handlungsweisen hat sich Frau Hingst aus unserem Kreis hinauskatapultiert. Wer so etwas tut, ist kein Blogger mit Ehre.

Aufmarsch der Psycho-Experten

Jetzt zu einem anderen Aspekt dieser Geschichte. Es ist ja schon fast vorhersehbar, man kann regelrecht darauf warten, wer dieses Argument auf Facebook oder Twitter als erster in den Ring wirft.

„Vielleicht hat sie ja psychische Probleme!“

Beim Thema „Psyche“, das wissen wir, gibt es in Deutschland mindestens so viele Experten wie bei der Aufstellung der Nationalmannschaft. Millionen Bundestrainer, Millionen Psychiater und Therapeuten. Und immer, wenn etwas passiert, das ganz spontan Empörung über ein bestimmtes Verhalten hervorruft, tönt es aus den selbstberufenen Ecken: Vorsicht vor Verurteilung, vielleicht ist sie/ er ja krank.

Landauf, landab – lauter kleine Freuds

Manche Menschen mutieren so zu wahren Diagnosenschleudern.

Wohlgemerkt, keiner von denen hat ein Medizinstudium und eine Facharztausbildung zum Psychiater. (Hätte er es, würde er an dieser Stelle schweigen …). Braucht man ja auch nicht. Die Motivationslage eines Mesut Özil sieht man auf dem Platz, die Diagnose eines Donald Trump in der Pressekonferenz. Scheinen manche zu denken.

Auf diese Weise erhalten psychiatrische Diagnosen etwas Triviales, Comic-Haftes, etwas Stammtisch-Generiertes, sie entfernen sich von ihrer eigentlichen Bedeutung, nämlich krankheitswertige Einheiten zu benennen, damit eine passende Therapie eingeleitet werden kann.
Und ebenso wenig, wie der besorgte Facebook-, Twitter- oder Youtube-User über psychiatrische Sachverhalte urteilen kann, kennt er auch den Menschen, über den er sein Urteil fällt.
Ich habe bereits bei Trump geschrieben, dass es ein Unding ist, ihn ohne genaue Untersuchung in die eine oder andere Ecke zu stellen. Psychiatrie ist nicht der „Tatort“, bei dem jeder mitraten kann, wer nun der Täter war.

Marie Sophie Hingst ist ein gutes Beispiel dafür, wie fatal es ist, sich von dem zu entfernen, was wir wissen (Lüge, Betrug) und die große Wundertüte dessen zu öffnen, was sein könnte (irgendwelche psychischen Probleme). Sollte Frau Hingst therapiebedürftig sein, wird sie hoffentlich den Weg zu einer geeigneten Behandlung finden. Das ist in diesem Land und im Jahre 2019 nicht allzu schwer.

Für uns alle als Außenstehende sollte aber gelten, dass wir uns jedwede Psychologisierung verkneifen sollten, die weder der Sache noch Frau Hingst noch all denjenigen dient, die tatsächlich eine psychische Störung haben und sich plötzlich im selben Boot wie eine Betrügerin vorfinden – zumindest medial.

Peter Teuschel

7 Responses
  1. Schwieriges Terrain, um objektiv zu sein und bleiben zu können. Wenn Menschen verlernen vis a vis zu kommunizieren, verliert die Körpersprache immer mehr an Gewicht, die dem Inhalt glaubenswertenswertes Gewicht und Vertrauen verleiht.

    Langfristig schwant mir nicht viel Gutes diesbezüglich.
    Vor allem, weil psychisch behandlungsbedürftige Patienten noch mehr verlieren.

    Ein neues Krankheitsbild im ICD 15?
    F.0815
    Fake-Persönlichkeitsstörung mit Alltagsflucht

    – hat keine persönlichen Bindungen
    – bedient sich ungefiltert ohne Reflektion Inhalten anderer öffentlichen Autoren und deutet diese entsprechend ihren emotionalen Bedürfnissen um
    – diesbezüglich extremes Suchtverhalten. weil eigenes Bildungsniveau nicht gefördert wurde
    – narzisstisches Verlangen unbegrenzbar
    – kein Schuldbewusstsein für das Verhalten und damit auf weltweite Folgen
    – die Einnahme von Drogen, Alhohol oder anderer chemischer Substanzen ist keine Voraussetzung
    – keine relevanten diagnostisch beweisbaren psychiatrischen Diagnosen
    – Schlaf- und Wachrythmus ungestört
    – der Narzissmusfaktor liegt im Obersten des oberen Bereiches

    Zu prüfende Patient ist völlig unfällig und für unser Gemeinwohl eine große Bereicherung

    Vielleicht erleben wir noch das, ich hoffe, die Menschheit, nicht.

    • Dieser Kommentar auf Herrn Dr. Teuschels Beitrag möchte mir was sagen? Ich finde, er hat nichts mit dem sehr nachvollziehbar und klar ausgedrückten Beitrag zu tun. Das finde ich dann auch immer interessant.

      • Hallo Bine,

        ist es nicht toll, dass wir in einem Land leben, in dem wir nicht alles nachvollziehbar empfinden und dennnoch publik äußern dürfen, was uns klar und ausdrücklich erscheint?

        LG Sophie

  2. Jemand hat alles frei erfunden und andere an der Nase rum geführt. Ist es das Hochstapler-Syndrom? Wär ja (zu) schön gewesen, wenn´s wahr gewesen wäre. Einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich denke, dass bei genauerer Betrachtung und Analyse der Texte es auch ohne große Recherche aufgefallen wäre. Wenn man sich die Mühe gemacht hätte. Da gibt es oft ganz feine Widersprüche, Übertreibungen, irgendetwas stimmt nicht ganz zusammen, Ungehaltenheiten, unterschwellige Aggression, diffuse Ungeduld – und vieles mehr…

  3. Ich denke dabei an die Begriffe Wahrheit und Verantwortung. Wenn jemand frei erfunden Inhalte postet, kann das auch anregen zum Nachdenken und Lernen und wertvoll für Andere sein. Aber es bekommt einen anderen Stellenwert, wenn es wahrheitsgemäß als frei Erfunden gekennzeichnet wird, als wenn Fakes mit dem Mantel der Wahrheit ins Netz gepostet werden. Und jeder, der Inhalte in die Öffentlichkeit transportiert, trägt damit auch eine Verantwortung.
    Die:- Diagnosenschleudern- belustigen mich , gut ausgedrückt, wie überhaupt finde ich den Beitrag sehr gut. Mediale Ergüsse in sozialen Netzwerken geben halt nur Stimmungen wieder, selbst im wahren Leben habe zumindest ich bei Beurteilungen von Außen oft ein ganz anderes Bild, als wenn ich dann mal direkt mit dem Innen konfrontiert werde.Dann ist oft ein: -Huch, ist ja ganz anders als gedacht- aufgetreten!

    • Hallo Bine,

      ein Huch, anders gemeint, geschieht uns allen oft genug im Alltag, weil es immer schwierig ist, nicht richtig zuzuhören, sondern der Körpersprache zu folgen. Das hat evolutionäre Bedeutung und führt oft dazu, wenn wir sie nicht auf sie zurückgreifen könnne, dazu neigen, Worte im Internet aus unseren eigenen Erfahrungen zu interpretieren.

      Ob Fake oder News – wir sind alle dafür verantwortlich uns in dieser neuen Wahrnehmung zu schulen und mit anderen Informationsquellen abzugleichen, bevor wir uns viral infizieren lassen.
      Wichtiger ist m. E. , das in der realen Welt leben zu lernen und immer wieder von Kindesbeinen auf liebevoll erleben zu können.

      Das ist nicht einfach, zugegeben, wenn einem diese Erfahrungen vorenthalten werden .

      LG Sophe

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