Corona-Schnipsel

Wenn man in diesen Tagen etwas zum Thema Corona schreibt, ist das sehr oft à la minute. Die Meldungen rauschen in einem Tempo herein, dass es einem den Atem rauben kann. Da trifft diese absolute Ausnahmesituation auf unsere unglaubliche Vernetztheit und die modernen Möglichkeiten umfassender Informationsgeschwindigkeit.

In den letzten Tagen habe ich mich oft gefragt, was ich eigentlich zu diesen Corona-Zeiten sagen kann und will und konnte mir bisher keine Antwort darauf geben. Mittlerweile haben sich für mich aber doch einige Punkte konkretisiert, die ich kommentieren möchte.
Das sind jetzt mehr Gedankensplitter und Assoziationen als festgezurrte Meinungen. Die stündlich eintreffenden Infos machen auch meinen Standpunkt zu einem sich ständig bewegenden und veränderlichen Gebilde. Was heute noch gilt, kann morgen schon ganz anders sein.

Und da sind wir auch schon beim ersten Punkt:

– Veränderung

An sich ändert sich ja ständig alles. Wir merken es nur meistens nicht so, weil es eben langsam und bedächtig vor sich geht. Das Problem mit der aktuellen Veränderung ist die hohe Geschwindigkeit, mit der sie abläuft. Wir haben nicht die Zeit, die wir gewohnt sind, um uns darauf einzustellen. Das überfordert uns und gibt uns das Gefühl, dass wir nichts mehr unter Kontrolle haben.
Was hilft gegen dieses Zeitraffer-Phänomen?
Zum einen natürlich das ehrliche Eingeständnis, dass wir auch außerhalb einer Corona-Pandemie die meisten Dinge auch nur scheinbar kontrollieren können. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, denke ich nicht daran, dass mir ein Dachziegel auf den Kopf fallen könnte, obwohl das und tausend andere schlimme Dinge durchaus möglich wären. Glücklicherweise verdrängen wir diese Gefahren, die zwar möglich, aber statistisch nicht sehr wahrscheinlich sind.
Neben diesem Eingeständnis ist so ein auf 16fache Geschwindigkeit gestellter Film vor unseren Augen (in dem wir auch noch mitspielen) vielleicht eine ganz gute Gelegenheit, sich zu überlegen, was in unserem Leben konstante und dadurch keiner zeitlichen Dimension ausgesetzte Wichtigkeiten sind. Beziehungen, Freundschaften, Natur, Musik, ich denke, dass da jeder einzelne ganz unterschiedliche, fest in ihm ankernde emotionale Bereiche hat.
Höre ich in diese inneren Landschaften genau hinein, stelle ich vielleicht fest, dass ich gar nicht alles so festhalten muss, wie ich denke. Weil die wichtigen Dinge gar nicht festgehalten werden können. Weil sie vielleicht sogar nur bei uns verweilen, gerade weil wir nicht versuchen, sie fest zu halten.

– Angst

Das ist schnell abgehandelt. Wer jetzt keine Angst verspürt, ist wahrscheinlich nicht von dieser Welt. (Die Unterscheidung „normaler“ Ängste von krankheitswertigen Angst-Störungen ist übrigens in Corona-Zeiten genau so „Tagesgeschäft“ bei uns in der Praxis wie sonst auch. Es gibt also im Moment keine „Corona-Angst“ als Diagnose.)

– Medien

Was bin ich froh, dass wir in diesen medienlastigen Zeiten leben. Ich bin ein absoluter Fan schneller und überbordender Informationen. Allerdings rate ich meinen Patienten oft: „Ziehen Sie sich das nicht alles rein!“ Wer an einer Depression, einer Psychose oder einer Angststörung leidet, hat oft einen nicht so günstig eingestellten „Medien-Filter“. Sie oder er nimmt dann eine andere Bedrohlichkeit wahr, blendet krankheitsbedingt das Tröstliche aus und erlebt das Schreckliche verstärkt. Ich denke, dass in diesen Tagen jeder mitbekommt, was gerade los ist. Da muss man nicht am PC oder TV kleben, um sich auch noch die letzten Todeszahlen aus Italien oder Spanien zu geben. Die werden nämlich nicht besser erträglich dadurch, dass ich sie zeitnah miterlebe.
Welche Medien sind empfehlenswert? Natürlich entscheidet hier der persönliche Geschmack. Als unverzichtbare Informationsquelle sehe ich aber das Robert-Koch-Institut an.

– Verschwörungstheorien

Diese wohl unvermeidbaren Unkräuter auf der Meinungswiese sprießen erwartungsgemäß durch den Corona-Dünger besonders aus dem Frühlingsboden. Ich möchte hier bewusst nichts verlinken, um die mediale Aufmerksamkeit nicht noch mehr auf all diese Wichtigtuer zu lenken, denen die eigene Medienpräsenz wichtiger zu sein scheint als das dadurch riskierte Leben anderer Menschen.
Weniger medienlastig bekomme ich Verschwörungstheorien natürlich auch in der Praxis zu hören: Ganz am Anfang der Corona-Verbreitung hatte ich an einem Tag, nur getrennt durch 30 schlappe Minuten folgende zwei Theorien: Corona wurde in den USA gezüchtet, um China zu schaden. Corona wurde in Chiana gezüchtet, um die USA zu vernichten.
Ich möchte hier nicht allzu sehr auf das Thema Verschwörungstheorie eingehen, aber eins fällt mir doch auf: Akademiker sind, zumindest in meiner Praxis, führend im Entwerfen und Vertreten dieser kruden Quatschgeschichten.

– Toilettenpapier

Zu diesem Thema wie auch zu sonstigen Hamsterkäufen ist wohl jetzt schon jeder Joke gemacht worden. Deshalb von meiner Seite mal ein anderer Aspekt: Weiter oben habe ich über das Bedürfnis nach Kontrolle gesprochen. Unter diesem Aspekt sehe ich auch das Hamstern. Jetzt bin ich als Psychiater ohnehin mit allerlei Merkwürdigkeiten menschlichen Seins konfrontiert und finde gerade diese Eigenart der Menschen besonders liebenswert: Dass sie Dinge tun, die wir nicht begreifen. Wir Deutschen gelten ja als diszipliniert, strebsam und erfolgreich. Als rational orientiertes Volk. Sind da nicht leergekaufte Toilettenpapierregale der entschlossene Gegenentwurf dazu? Steckt nicht im Horten von Klopapier eine geradezu dadaistische Überzeugung, das nicht Erwartete, nicht Erforderliche, nicht Zweckdienliche zu tun?
Insofern: Offensichtlich geht uns das Toilettenpapier nicht aus. Also lasst die Hamster horten. Hamster sind halt auch nur Menschen.

– Ausgangsbeschränkungen

Dieser Punkt hängt ja eng zusammen mit Corona-Partys und anderen Exzessen, die ja in erster Linie jungen Menschen zugeschrieben werden. Ich habe da einen ganz klaren Standpunkt: Geht gar nicht. Das Leben anderer Menschen aufs Spiel zu setzen, weil man selbst – vermeintlich! – nicht besonders gefährdet ist, stammt aus der untersten Schublade menschlicher Motivation.
Andererseits wundere ich mich doch sehr darüber, wie überrascht das von einigen zur Kenntnis genommen wird.
Was habt ihr euch erwartet?
Ich spreche nicht davon, dass „unsere Gesellschaft“ (gibt´s die als Gesamtheit überhaupt?) narzisstisch und unverantwortlich sein soll, wie manche jetzt schreiben. Ich spreche eher davon, das wie zu allen Zeiten ein tiefer Graben zwischen Jung und Alt verläuft. Dieses Thema, dass sich die Alten über die Jungen beklagen, finden wir schon bei den alten Griechen. Meist ist das Geschrei groß über die vermeintlich missratene junge Generation, der es an Respekt vor den Älteren fehle. Wie sonst könnte beispielsweise die „Umweltsau Oma“ so ein gewaltiges Medienbeben auslösen?
Letztlich glaube ich, dass wir Erwachsenen eine große Mitschuld daran haben, dass junge Menschen sich so verhalten. Weil wir in der älteren Generation schon fast reflexhaft die Nabelschnur des Verständnisses zu Kindern und Jugendlichen kappen.
Dann brauchen wir uns auch nicht wundern, dass die Kids das nicht „kapieren“, dass sie keine Corona-Partys feiern sollen.
Nicht, dass ich missverstanden werde – wie gesagt ist das ein absolutes No-go! Aber ich kann mich dennoch in die Geisteshaltunhg hineinversetzen, die in dieses rücksichtslose Verhalten mündet. Und wenn ich mir die Altersklasse der Pubertierenden anschaue – deren wichtigster „Job“ ist es doch, genau das nicht zu tun, was „die Alten“ von ihnen verlangen.
Einziger Ausweg aus diesem Dilemma, und da schließt sich der Kreis zur Überschrift, sind ganz klare Ansagen, Beschränkungen und Verbote. Es ist einfach kindisch (hihi), bei dieser generationskampfbetonten Konstellation auf so etwas wie Einsicht zu bauen. Deshalb hätte es nicht geschadet, wenn Ausgangsbeschränkungen schon eher eingeführt worden wären. Eltern Pubertierender wissen, wovon ich rede.

– Wissenschaft

Dazu nur zwei Sätze: Es ist schön und erleichternd zu sehen, dass in dieser Krise Wissenschaft und Wissenschaftler so eine wichtige Rolle spielen. Zu viel mussten wir in den letzten Jahren diskutieren über pseudowissenschaftliche Themen.

– Loslassen

Nichts ist schwieriger für uns Menschen. Aber nichts entspricht nach meiner Meinung besser unserer existentiellen Herausforderung. Oder was würden Sie jemandem empfehlen, der nicht weiß, woher er kommt, wohin er geht und der sich, auf einer Kugel durch ein nicht verstehbares Universum treibend, fragt, was der ganze Spaß hier soll? „Relax,“ würden Sie vielleicht sagen,“ relax and let it be.“

– Arbeit und Struktur …

… ist der Titel eines der eindrucksvollsten Bücher, die ich kenne. Der Autor Wolfgang Herrndorf beschreibt darin die letzten Jahre seines Lebens – von der Diagnose eines bösartigen Hirntumors bis zu seinem Suizid. Also belastende Lektüre und sicher nichts für jedermann zu jeder Zeit. Aber eine wichtige und in meinen Augen unverzichtbare Ergänzung zum „Loslassen“. Quasi der Gegenpol. Was stützt uns in einer Zeit der Schwierigkeiten, gar der Ausweglosigkeit? Die Hinwendung zu Aktivität, Strukturierung, Ordnung. In Zeiten von Corona sollten wir nicht alle Zügel schleifen lassen, denn das hat nichts mit „Loslassen“ zu tun. Im Gegenteil, im Angesicht des Chaos müssen wir zurückgreifen auf das, was wir Menschen besonders gut können: Zeit und Leben mit Aktivität füllen, mit einem Sinn, der nicht von sich aus da ist, sondern der von uns geschaffen wird: Nicht durch Denken, sondern durch Tun.

– Humor und Dankbarkeit

In welchen Momenten verspüren wir keine Angst? In den Momenten, in denen wir für etwas dankbar sind. Und in den Momenten, in denen wir über etwas herzhaft lachen können. Probieren Sie es aus.

Peter Teuschel

(Tja, welche Musik will ich unter diesen Artikel stellen? Nachdem wir ja alle jetzt ein bisschen mehr Zeit haben, kann ich mal ein etwas längeres Musikstück verlinken. Eines meiner Lieblingskonzerte für Violine und Orchester. Wer es nicht so mit der klassischen Musik hat, wird sich vielleicht ein bisschen plagen mit der Auswahl, dafür ein ehrliches „Sorry“ von meiner Seite. Der finnische Komponist Jean Sibelius hat den dritten Satz seines Konzertes als „Totentanz“ bezeichnet. Das soll in diesem Zusammenhang nicht zynisch wirken, sondern Mut machen, dem Aspekt des Todes den des Tanzes gegenüber-, vielleicht sogar entgegenzustellen.
Wer nur den Totentanz erleben will, steigt bei etwa 28:40 ein. Wer mehr Zeit erübrigen kann, hört sich das ganze Konzert an und freut sich über die zupackende und ergreifende Interpretation der von mir sehr verehrten Hilary Hahn.)

Bild „Against the darkness“ ©Peter Teuschel

5 Responses
  1. Lieber Herr Teuschel,
    nun bin ich wahrlich nicht einer, der in Papa Freud den schlechthinnigen Erklärer aller psychischen Phänomene sieht. Da ist mir Jaspers mit seiner Einsicht, dass ich manches psychische Phänomen zwar mühelos einer psychischen Erkrankungen zuordnen kann, es aber sinnlos ist, es inhaltlich verstehen zu wollen, schon viel näher. Dennoch: die Panikkäufe von Toilettenpapier lassen sich prima nach Freud interpretieren. In der zweiten Freudschen Lebensphase, der analen Phase, beginnt der Mensch Kontrolle zu erwerben, zuerst die Kontrolle über die Darmschliessung. Der Akt der Kontrolle über die Darmöffnung und -wiederverschliessung endet bekanntlich mit der Verwendung von WC-Papier. Die Angst vor einem Mangel an Klopapier entspricht im übertragenen Sinne also der Angst vor einem partiellen Kontrollverlust – was im Hinblick auf das Infektionsrisiko und die sich daraus ergebenden Quarantänemassnahmen nicht so abwegig ist.

    Viele Grüße

    Ihr Christian Nunhofer

  2. Und die Krankenkasse hamstert auch. Mitte März wurde mein Konto ohne Vorwarnung geplündert. 900 Euro einfach mal schnell abgebucht (alleine diese Dreistigkeit!), was man hat, das hat man…irgendwo rausgesaugt aus einem Steuerbescheid von 20xx…keine Ahnung, ich verstehe es nicht, da ich wie fast immer alle Steuervorauszahlungen zurückerstattet bekam…
    Diese Krake wird uns nach der Corona-Krise ebenfalls um die Ohren fliegen. Da bin ich mir ganz sicher. Ein Enteignungs- und Unrechtssystem ohne Gleichen! Gerade die Alleinstehenden werden abgezockt, die sowieso schon existenziell häufig am Minimum knapsen. Wärst mal schön beim Herrchen geblieben, selber schuld, was muss frau auch selbständig sein.
    Holt euch das Geld doch von den Superreichen! Kein existenzieller Freibetrag, das geht so überhaupt nicht.
    Mei, Sie sind halt freiwillig versichert, sagt die Angestellte. Ich kann Ihnen versichern, dass ich zu 100% „freiwillig“ versichert bin!
    Jetzt hat man mir empfohlen ein Bittgesuch an die Zentrale zu verfassen, indem ich erkläre, dass ich von der Coronakrise betroffen bin. Natürlich bin ich das, was denkt ihr Ixx denn!

  3. Ich möchte mich bedanken. Für die Gedanken und die Anregungen Ihres Blogs. Bin sehr froh das Sie sich die Zeit nehmen und freue mich über jede einzelne mail. Dankbar sein und herzhaft lachen als Angstmanagement

  4. Lieber Herr Dr Teuschel,
    Vielen Dank für Ihren Beitrag. Er regt zum Nachdenken an und schafft etwas Kontakt in einer sozial einsamen Zeit (egal ob man alleine oder zu zweit ist: soziale Isolation ist immer schwierig).
    Freue mich über weitere Gedanken und Anregungen von Ihnen.
    Chris

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