Buchbesprechung: Kinder brauchen Nähe

Wolf im Schafspelz

In der Reihe „Gehirn und Geist“ ist dieses Buch mit dem Untertitel „Sichere Bindungen aufbauen und erhalten“ letzten Monat im Schattauer Verlag erschienen.

Die Herausgeberinnen stecken durch ihre wissenschaftliche Ausrichtung als Biologin bzw. Psychologin bereits die Spannbreite des Inhalts ab.

Ein Ziel des Buches ist, psychodynamische und neurobiologische Aspekte der Bindungserfahrung von Kindern zu verzahnen und so zu einer neuen, im besten Sinne ganzheitlichen Sicht auf dieses Thema beizutragen.

 

Ein Blick auf die Gliederung zeigt die Schwerpunkte des Buches: „Frühe Bindung – Erziehen mit Gefühl – Familienbande“.

Alle drei Bereiche sind mit  Beiträgen mehrerer Autoren vertreten.

Die Kunst bei einem solchen Mehrautoren-Buch ist es, trotz der im Text immer spürbaren Unterschiede in Schreibstil und Gestaltung für einen einheitlichen Lesefluss zu sorgen.

Den beiden Herausgeberinnen Katja Gaschler, Biologin und Redakteurin bei „Spektrum der Wissenschaft“ und Anna Buchheim, Professorin für Psychologie in Innsbruck, ist dies gelungen. Die einzelnen Beiträge lesen sich leicht, sind kompakt gehalten und bieten auf fast jeder Seite instruktive Abbildungen, Tabellen und Merksätze. Grundlegende Begriffe werden in übersichtlicher Form zu Beginn eines Beitrags erklärt.
So lesen auch Nicht-Fachleute das Buch mit Gewinn und ohne zusätzliche Recherche.

Überhaupt ist das Buch ein echter Wolf im Schafspelz.

Das schmale Format, die Aufmachung mit dem Kindchenschema-Cover in Pastelltönen und dem Titel in roten Lettern signalisieren einen eher soften Inhalt. Vom ersten Artikel an merkt der Leser aber, dass sich hier praktische Erfahrung, Bindungstheorie und moderne Hirnforschung zu einem außerordentlich spannenden Blick auf ein uraltes Thema neu zusammenfinden.

Dieser Anspruch, immer neue „Spotlights“ aus immer anderen Richtungen auf das Thema Bindung zu richten und Fallbeispiele aus der Beratungspraxis, neuere Studien und auch einmal Handlungsanweisungen zu verbinden, durchzieht das ganze Buch.

Hormone, Hirn und Elternliebe

So erfahren wir im ersten Teil, warum frühkindliche Bindungen für das Gelingen erwachsener Beziehungen wichtig sind, wie Eltern mit dem Problem „Schreikind“ umgehen sollten und lernen über die Möglichkeit einer „Elternschulung“.
Non-verbale Verständigung (inklusive einer „Partitur“ des Eltern-Kind-Dialogs) und Depression im Wochenbett sind weitere Themen im „Frühe Bindung“- Teil.
Das „Schmankerl“ ist aber aus meiner Sicht der Beitrag von Anna Buchheim und Wulf Bertram „Wie Bindung das Gehirn verändert“. Wenn Sie wissen wollen, wo im Gehirn der Ort der Liebe ist und mit welchem Hormon (als Nasenspray anwendbar) die Schüchternheit der Beziehungsfähigkeit weicht: Lesen!

Der „Erziehungsteil“ des Buches widmet sich in nicht weniger unterhaltsamen und spannenden Beiträgen den Themen Trotzköpfe, psychische Widerstandskraft, Aufbau von Vertrauen und dem Umgang mit kindlichen Schlafstörungen. Auch hier werden die bereits erwähnten Elternschulungen noch einmal aufgegriffen und kritisch durchleuchtet.
Die Bilanz sollte Eltern durchaus entlasten: „Gute Eltern machen 20, 30 Fehler am Tag“. Ein wohltuender Abschied vom Unsinn eines „perfekten“ Elternbildes.
Eindrucksvoll fand ich auch den Beitrag über die Werte, die Eltern ihren Kindern durch Erziehung vermitteln wollen. „Fit für den Beruf“ oder „Spaß im Leben“, was ist Eltern (im europäischen Vergleich) wohl wichtiger?

Der Teil 3, “ Familienbande“, geht auf die besondere Rolle von Vätern und Großeltern ein und wirft einen Blick auf die Situation von Scheidungskindern aus psychologischer und juristischer Sicht.
Mein persönlicher Lieblingsartikel in diesem Teil beschäftigt sich mit dem Einfluss von Geschwistern auf Intelligenz, Aggressivität und Eifersucht.
„Das grundlegende Merkmal der Geschwisterbeziehung ist ihre Ambivalenz“, schreibt der Autor und trifft damit den Nagel auf den Kopf.

Zusammengefasst ist „Kinder brauchen Nähe“ ein gelungenes Potpourri mit einem stimmigen Brückenschlag zwischen Psychologie und Hirnforschung (und dadurch ein zutiefst psychiatrisches Werk :)).

Lesenswert ist es für alle, die selbst Kinder haben und „mal was Neues“ zum Thema lesen wollen und natürlich für alle, die beruflich mit Kindern zu tun haben, sei es als Arzt, Psychologe, Lehrer, Erzieher oder Sozialpädagoge.

Gaschler/ Buchheim. Kinder brauchen Nähe.
€ 19,95. Schattauer Verlag, ISBN 978-3-7945-2872-1

Peter Teuschel

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