Haudrauf der Woche: Der Stehenbleiber

 

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Eine Ehrung, die schon lange fällig ist. Aber irgendwie hatte ich ihn etwas aus den Augen verloren, den Stehenbleiber. War er so zurückhaltend oder ergab sich keine Gelegenheit, weil ich nicht so viel unterwegs war?
Ich weiß es nicht. Jetzt ist es jedenfalls soweit. Er bekommt den Haudrauf verliehen.

Um es gleich mal klar zu stellen: Er ist nicht immer männlich. Es gibt auch sie, die Stehenbleiberin. Aber der Einfachheit halber verwende ich jetzt mal die männliche Form.

Gerade im Weihnachtsgeschäft tritt er auf, gerne in großen Städten wie hier in München.

Im Gegensatz zum Sitzenbleiber, der ein ganzes Schuljahr darauf hinarbeiten muss, nicht in die nächste Klasse versetzt zu werden, ist der Stehenbleiber eher der spontane Typ. Ein Meister der Improvisation, um genau zu sein.

Unauffällig reiht er sich in den Strom der Fußgänger ein und wartet auf seine Gelegenheit. Dann seine Chance: Ein Auto parkt halb am Gehsteig. Genau an dieser Stelle stehen Passanten und schauen ins Schaufenster. Da schlägt der Stehenbleiber zu: Er bleibt stehen.  Zwischen Auto und Schaufensterschauern.

Es gibt verschiedene Varianten des Stehenbleibers. Je nach Alter, künstlerischem Anspruch oder Weltanschauung sind die auf den Akt des Stehenbleibens aufgepfropften Handlungen unterschiedlich. Der eine packt sein Taschentuch aus und schneuzt sich geräuschvoll. Das hat den Vorteil, dass sich keiner so richtig nahe an ihn ran traut.
Der andere beschließt, seine emails auf dem Smartphone zu checken. Könnte ja sein, dass gerade was Wichtiges reingekommen ist.
Wieder ein anderer tut nichts. Er steht da und blickt sich um. Er staunt. Er denkt. Er philosophiert. Er steht.
Beliebt bei der weiblichen Variante des Stehenbleibers: Das Komplizengespräch. An besagter Engstelle scheint nämlich das Gespräch zwischen der Stehenbleiberin und ihrer Begleiterin (Komplizin) ein besonders intensives Niveau erreicht zu haben, einen Kulminationspunkt kommunikativer Wichtigkeit. Deshalb bleibt die Stehenbleiberin stehen und wendet sich frontal ihrer Komplizin zu. In intensivem Augenkontakt wird dann die Weltformel ausgetauscht. Ein weihevoller Moment. Die Welt hält den Atem an. Die Menschenmenge hinter der Stehenbleiberin verharrt andächtig.
Was soll sie auch sonst tun. Es geht ja nicht weiter. Keiner kommt durch.

Denn das ist das Prinzip des Stehenbleibers: Er lässt die Leute innehalten. Er zwingt sie zur Achtsamkeit. In den Engführungen des städtischen Dschungels mahnt er alle, die es hinter ihm eilig haben, kurz zu verweilen und ganz im Augenblick zu leben. Er ist der personifizierte Gegenentwurf zur Hetze des Alltags, ein Robin Hood der Zeit. Er nimmt den Eiligen und gibt den Schlenderern.

Prallt man auf ihn, so ist er selten ungehalten. Meist lächelt er milde, vergebend. Beschimpft man ihn, so runzelt er bestenfalls die Stirn, geht in sich, verwurzelt fest im Boden und versucht zu ergründen, warum ihm das widerfährt. Er weiß es nicht. Er tut ja nichts. Noch nicht mal gehen.

Ich bin mir sicher, eines Tages wird dem Stehenbleiber ein Denkmal gesetzt werden. Mitten auf dem Gehsteig, an irgendeiner engen Stelle, an der das Denkmal wie ein Wellenbrecher den Strom der Fußgänger auf Krabbelkindtempo herunterreguliert.

Aber bis dahin muss er sich mit einer anderen Ehrung zufrieden geben: Dem Haudrauf der Woche.

Peter Teuschel

7 Responses
  1. Ich habe den Eindruck das Sie gerade sehr im vorweihnachtlichen Xmas shopping Stress sind.
    … nur noch mal KURZ ein paar Geschenke besorgen … in (fast) letzter Minute. 😉

  2. Sehr schön! Diese nervtötende Spezies kenne ich vor allem aus dem Supermarkt^^.

    Dort fühlt sich der Stehenbleiber besonders heimisch. Hohe Warenregale, die enge Gassen bilden – ideal, um mittels Körpermasse & Einkaufwagen als flexible Barrieren versperrt zu werden.

    Gefährdet ist der Stehenbleiber nur an der Kasse. In der Warteschlange trifft er auf den Typus des „ungeduldigen Rentners“, seinem Intimfeind. Dieser fährt dem Stehenbleiber in der Warteschlange erstmal in die Hacken. Natürlich nur, um diesen im Allgemeininteresse zu beschleunigen, nicht etwa aus Unhöflichkeit und Egoismus.

    Derweil wünscht sich der misanthropische Einkäufer (dem ich angehöre) einfach nur so schnell wie möglich aus dem Einkaufsirrsinn herauszukommen ohne mit dem Stehenbleiber (der zuvor mehrfach umlaufen werden musste) noch mit dem ungeduldigen Renter (der einen vorm Regal wortlos mit vorwurfsvoller Miene zur Seite gestoßen hat) auf der Zielgeraden noch aneinanderzugeraten. Memo: Nächstes Mal besser wieder nach 21 Uhr einkaufen gehen – da sind die beiden anderen Spezien nicht unterwegs.

    • Ja. Der Supermarkt ist eine der Spezialdisziplinen des Stehenbleibers. Aber das ist wirklich mehr was für Spezialisten. Der ungeduldige Rentner und der misanthropische Verkäufer lassen diesen Parcours für den Stehenbleiber zur echten Charakterprüfung werden.

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