Fragen an einen Toten

Es war Ende Juni, als ein Angler in der Nähe von Wilstorf einen grausigen Fund machte: Er zog eine zum Sack geschnürte Plane aus der Elbe, in der sich ein Toter befand.

Es konnte rasch festgestellt werden, dass hier höchstwahrscheinlich ein Verbrechen vorlag: Der Mann war durch einen Kopfschuss ums Leben gekommen. In dem mit Kabelbindern verschnürten Sack fand sich auch ein Rucksack, der mit Steinen gefüllt war.

Nach einiger Zeit konnte auch die Identität des Mannes bestimmt werden: es handelte sich um den 43jährigen Ulrich S.

Was dann folgte, ließ die ermittelnden Polizeibeamten aber mehr und mehr verzweifeln: Keiner kannte Ulrich S. Er lebte von Hartz IV, gelegentlich verdiente er auch etwas mit 1-Euro-Jobs. Verwandte gab es wohl, aber die hatten ihn seit Jahren nicht gesehen. Eine Lebenspartnerin? Freunde? Bekannte? Fehlanzeige. Auch bei intensivsten Ermittlungen war über Ulrich S. nichts herauszufinden.

Natürlich öffneten die Beamten seine Wohnung: Sie war leer. Keine Möbel, nichts. Dazu frisch renoviert. Die Wohnung von einem, der ausgezogen ist.

Erst spät wurde bekannt, dass bereits einmal die Wohnung von Ulrich S. geöffnet worden war: 2004 fuhr er mit einem gemieteten Kleinlaster frontal gegen einen Brückenpfeiler. Er überlebte schwer verletzt. Seine Wohnung damals: Leer, frisch renoviert.

Ulrich S. hat sich selbst in diesen Sack gesetzt, glaubt die Polizei mittlerweile. Irgendwo am Elbstrand soll er seinen mit Steinen gefüllten Rucksack zu sich in den Sack genommen haben. Mit Kabelbindern schloss er sich ein, ließ eine Öffnung , gerade so groß, dass er sich selbst in den Kopf schießen konnte. Dann soll die Pistole aus seiner Hand und er in die Elbe gefallen sein. Die Pistole wurde bisher nicht gefunden.

Bereits 2004 habe er sich durch den Autounfall suizidieren wollen, dieses Mal habe er eine andere Methode gewählt, eine ungewöhnliche, komplizierte, aber effektive.

Ich lasse es mal so stehen, dass das ein Suizid war.

Aber wer war Ulrich S.? Kannte ihn jemand näher? Hätte man ihm helfen können?

Ich stelle mir vor, ich kann ihm Fragen stellen:

Hatte er als kleiner Junge Spaß?
Wurde er von seiner Mutter geliebt?
Gab es Musik, die ihm gefallen hat?
Was hat er gespürt, wenn die Frühlingssonne auf seine Haut schien?
Hat er daran gedacht, mit jemandem  über sein Leben zu reden?
Sich Hilfe zu holen?
Hätte es etwas gegeben, das ihn zurückgehalten hätte?

Ich stelle mir vor …

Statt Antworten fragt er mich:

Ob ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nichts auf der Welt erträgt?
Am wenigsten sich selbst?
Ob ich das verstehen kann, dass er immer die Vorhänge zugezogen hat, wenn die Sonne schien?
Dass er an nichts weniger gerne denkt als an seine Kindheit?
Ob ich weiß, wie es ist, wenn man keine Zukunft mehr für sich sieht?
Ob ich ihm glaube, dass er sich nach nichts so sehr gesehnt hat wie weg zu sein?

Ich stelle mir vor …

Ulrich S. antwortet nicht auf meine Fragen. Er sieht mich mit einem Blick an, wie ihn diese Leute haben, die einfach nur alleine gelassen werden wollen. Er dreht sich weg und lässt mich stehen.

Ulrich S.  Ein rätselhafter Suizid. Ein rätselhaftes Leben.

Wir wollen immer alles verstehen und wissen doch so wenig.

Peter Teuschel

Der Fahndungsaufruf der Polizei: http://www.welt.de/regionales/hamburg/article108511299/Das-Raetsel-um-den-Toten-in-der-Elbe.html

3 Responses
  1. Oh – was ist denn trauriger?

    Ein Mensch, der innerlich schon so gestorben ist, noch bevor er stirbt?

    Oder…

    Dass das niemandem aufgefallen ist?

    Friede seiner geschundenen Seele….

  2. Da ist dem Angler aber ein dicker Fisch ins Netz gegangen,
    der muß ja mit leibeskräften am werk gewesen sein um seinen Fang an Land zu ziehen,
    und dann beim auspacken entpuppt sich das ganze als Sparpaket.
    Bitter.
    Man sollte aufpassen das sich diese „Ich werf mich mal schnell weg Mentalität“ nicht durchsetzt,
    sonst werden noch überall Schilder aufgestellt mit dem Hinweis:
    „EINE STRASSE WEITER BITTE SCHÖN“!
    „DANKE FÜR IHRE MITHILFE“!

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